Der Bund, 12.09.2015

http://www.derbund.ch/bern/stadt/auseinandersetzung-bei-unbewilligter-demo-auf-dem-helvetiaplatz/story/17342213

Über ein Dutzend Verletzte nach Demo – der Auto-Attentäter ist im Spital

Zwischen pro-türkischen und kurdischen Demonstranten ist es am Samstag zu Zusammenstössen gekommen. Dabei raste ein Auto in eine Menschenmenge.

Bei einer Demonstration gegen die türkische Politik im Konflikt mit den Kurden kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden. Über ein Dutzend Personen wurden im Zuge der Scharmützel verletzt. Am Rande der Ausschreitungen fuhr ein Auto in eine Menschengruppe kurdischer Demonstranten. Es kursieren verschiedene Videos des Vorfalls.

Ein sehr drastisches Video, welches im Laufe des Abends von der Bildagentur Keystone auf Youtube zugänglich gemacht wurde, zeigt in einer nahen Aufnahme, wie ein Auto auf der Schwellenmattstrasse mit hoher Geschwindigkeit in eine Menschenmenge rast, ohne sichtbare Anstalten, auszuweichen. Mehrere Personen werden von der Haube erfasst und weggeschleudert. Ein Mann bleibt liegen. Andere rappeln sich sofort auf und nehmen die Verfolgung auf.

Ein anderes Video, das auf den sozialen Netzwerken verbreitet wird, zeigt den Vorfall aus einiger Entfernung – der Zusammenprall findet im schattigen Bereich statt:

Gemäss Augenzeugen wurden mehrere Verletzte abtransportiert. In einer Medienmitteilung vom Samstagabend mit Stand 20.30 Uhr bestätigt die Polizei zwei «Vorfälle mit Autos». Ob und wie viele Personen verletzt wurden, sei noch Gegenstand von Abklärungen. Der mutmassliche Lenker sei verletzt ins Spital gebracht worden. Ausserdem wurde in einem anderen Fall ein Beifahrer aus einem Auto gezogen und verletzt. Auch er befindet sich gemäss Polizei im Spital.

Kurden wollten Demo pro-türkischer Aktivisten stören

Die Auseinandersetzungen auf dem Helvetiaplatz begannen nach Angaben der Berner Kantonspolizei rund um eine bewilligte Kundgebung und eine unbewilligte Gegenkundgebung.

Ein Mann, der sich gegenüber der Nachrichtenagentur sda als Vertreter der «Union Europäisch-Türkischer Demokraten» (UETD) ausgab, sagte, seine Vereinigung habe auf dem Helvetiaplatz gegen den «Terrorismus» und den aktuellen Kurdenkonflikt in der Türkei demonstrieren wollen. Dabei seien sie von PKK-Anhängern gestört worden.

Die UETD steht der türkischen Regierungspartei AKP nahe. Die Mitglieder seien jedoch keine «türkischen Nationalisten», hielt Hakan Gokbas fest.

Kurden bestätigten gegenüber der Nachrichtenagentur sda, dass sie diese Demonstration stören wollten. Zur Demonstration hatten linksautonome und kurdische Kreise aufgerufen. Eine Kurdin begründete dies mit der Situation der türkischen Stadt Cizre, die von der türkischen Armee abgeriegelt ist und als Hochburg der kurdischen Arbeiterpartei PKK gilt. Laut der kurdischen Seite begann die kurdische Kundgebung vor jener der UETD.

Über ein Dutzend Verletzte

Ein Passant, der sich kurz vor 15 Uhr vor Ort befand, berichtet, dass der Konflikt langsam angelaufen und plötzlich eskaliert sei. Rund um den Helvetiaplatz hätten sich Grüppchen türkischer Aktivisten gebildet. Es sei zu verbalen Angriffen zwischen den Gruppierungen gekommen. Als sich die beiden Gruppen annäherten, ging die Polizei dazwischen: «Sie griffen mit Gummischrot und Tränengas ein, daraufhin flogen Flaschen. Die Situation wurde schnell unübersichtlich», so der Augenzeuge.

Im Anschluss trieb die Polizei die kurdischen Aktivisten über die Brücke in Richtung Casinoplatz. Eine Weile herrschte eine Pattsituation. Die Polizei trennte die beiden Gruppen, indem sie die Brücke sperrte. Kurz nach vier Uhr löste sich die Demonstrierendengruppe der Türken auf dem Helvetiaplatz auf.

Im Zug der Ausschreitungen wurden gemäss Polizei «über ein Dutzend» Personen verletzt. Zudem seien vier Polizisten und ein Polizeihund verletzt worden.

Die Eskalation kam schleichend

Der massiven Eskalation gingen offenbar diverse Versuche der Polizei voraus, die Demonstrantengruppen zu trennen. So schreibt die Polizei in ihrer Mitteilung, sie habe versucht, die Organisatoren der bewilligten Demonstration davon abzuhalten, sich auf dem Helvetiaplatz zu besammeln. Dies, nachdem die Gegendemonstranten bereits früh auf dem Helvetiaplatz aufgetaucht waren.

Den Gegendemonstranten habe die Polizei einen alternativen Standort zur Demo angeboten. Diese seien darauf aber nicht eingestiegen. Sie hätten sich der Wegweisung widersetzt und «Polizeikräfte angegriffen». Der Platz wurde geräumt, Reizgas und Gummischrot eingesetzt. Als sich Gruppen pro-türkischer Demonstranten dem Platz annäherten, kam es zu weiteren Scharmützeln zwischen den politischen Gegnern.

Auf der linksautonomen Plattform indimedia.org wurde derweil ein anonymer Demoaufruf für Samstagabend zur Solidarität mit den Kurden aufgeschaltet: Türkische Nationalisten hätten die kurdischen Demonstranten mit Schlagstöcken angegriffen. Auch die Polizei wird kritisiert: «Menschen, die erste Hilfe leisten wollten, wurden von der Polizei aus nächster Nähe mit Gummischrot und Reizgas angegriffen», heisst es im Aufruf.

(hjo/sda)