Die Presse, 11.09.2015

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Kurdenkonflikt: Kampf mit Scharfschützen und Sprengfallen

In Cizre liefern sich die türkische Armee und die PKK heftige Gefechte. Der Europarat fordert Zugang in die Stadt.

unserer Korrespondentin Susanne Güsten (Die Presse)

Istanbul. Um die Stadt Cizre im Osten der Türkei toben weiterhin Gefechte. Die türkischen Streitkräfte haben die Stadt umstellt, in den Straßen haben sich Kämpfer der kurdischen Untergrundorganisation PKK verschanzt. Die prekäre Lage in Cizre erregt inzwischen Interesse im Ausland. Der Europarat verlangte von der Regierung in Ankara am Freitag, unabhängige Beobachter in die Stadt zu lassen. Die schwedische Außenministerin Margot Wallström rief den Chef der prokurdischen, linken Partei HDP, Selahattin Demirtaş, an und sprach mit ihm über Cizre, wie die HDP mitteilte. Die Stadt mit 120.000 Einwohnern wird zum Brennpunkt des neu aufgeflammten Kurdenkonfliktes in der Türkei: Seit der vergangenen Woche wird Cizre an der syrischen Grenze von Sicherheitskräften abgeriegelt.

Nach Regierungsangaben sind in den vergangenen Tagen mehr als 30 Kämpfer der PKK in Cizre getötet worden. Kurdenpolitiker sprechen dagegen von einer brutalen Strafaktion gegen kurdische Zivilisten, der Kinder und Frauen zum Opfer gefallen seien.

Die PKK rief aus Protest gegen die Lage in Cizre ihre Anhänger in Europa zu Protestaktionen auf. PKK-Anhänger hatten Cizre vor einigen Wochen einseitig zu einem Autonomiegebiet erklärt, in dem türkische Institutionen nicht mehr anerkannt werden sollten. Sie errichteten Barrikaden und hoben Gräben aus, um Polizeifahrzeugen den Zugang in die Stadt zu verwehren. Die Behörden entsandten Sondereinheiten und verhängten eine Ausgangssperre. Innenminister Selami Altinok erklärte, in Cizre seien 800 Kilogramm Sprengstoff beschlagnahmt worden. Straßen seien mit Sprengfallen unpassierbar gemacht worden, heißt es in Ankara.

Dagegen berichteten Kurdenpolitiker von Scharfschützen der Polizei, die Jagd auf Zivilisten machten. Frauen und Kinder seien der Belagerung zum Opfer gefallen. Selbst Beisetzungen sowie Gottesdienste in Moscheen würden verboten, Wasser und Strom seien vielerorts abgestellt. In Cizre solle ein Exempel statuiert werden.


PKK vergleicht Cizre mit Kobane

Die Führung der prokurdischen, linken HDP versuchte vergeblich, nach Cizre zu gelangen: Sicherheitskräfte verwehrten den Politikern den Zutritt in die Stadt. HDP-Chef Demirtaş erklärte darauf, die Brutalität von Polizei und Armee in Cizre hätten der PKK viele Sympathien verschafft. Auf Bildern, die angeblich aus der Stadt stammen, waren viele schwer verletzte Menschen zu sehen, darunter ein Kleinkind. Während die Kurden dem Staat Vorwürfe machen, geht die PKK selbst ohne Rücksicht auf Zivilisten vor: In der Stadt Diyarbakir eröffneten Bewaffnete das Feuer auf Polizisten in einem Lokal und töteten einen 21-jährigen kurdischen Kellner.

In PKK-Erklärungen wird die Lage in Cizre mit der Belagerung der syrischen Kurdenstadt Kobane im vergangenen Jahr verglichen: In der Propaganda der Kurdenrebellen wird Cizre zum Zentrum des Widerstands gegen das Böse verklärt. Der in London ansässige Türkei-Experte Ziya Meral schrieb auf Twitter, der türkische Staat und die PKK versuchten in Cizre jeweils ihre eigene „Souveränität zu behaupten“.

Die PKK will im Südosten des Landes eine kurdische Selbstverwaltung errichten, ähnlich den kurdischen Kantonen in Syrien. Die „Autonomie“ ist für Ankara Zeichen eines wieder belebten kurdischen Separatismus. „Wir sind hier nicht in Syrien“, sagte der türkische Premier Ahmet Davutoğlu. „Hier werden nicht irgendwelche Kantone ausgerufen.“