junge Welt, 15.09.2015

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Das Land neu aufbauen

Syrische Oppositionelle: Ausweg aus dem Krieg nur zusammen mit Assad-Regierung möglich. Ein Besuch bei Rechtsanwalt Anas Dschuda

Von Karin Leukefeld/Damaskus

»Ich bin optimistisch. Wir werden eine Chance haben, eine Zukunft.« Der Oppositionelle und Rechtsanwalt Anas Dschuda hat viel zu tun in diesen Tagen. Mit Gleichgesinnten bereitet er eine Konferenz vor. Es geht um nicht weniger, als endlich einen Ausweg aus der syrischen Tragödie zu finden. Das Vorbereitungstreffen soll noch im September in der libanesischen Hauptstadt Beirut stattfinden. Während des Gespräches mit jW klingelt immer wieder sein Telefon.

Ein Anrufer teilt mit, dass der Oppositionelle Masen Darwisch, der wegen seines Engagements für das Zentrum für Medien- und Meinungsfreiheit drei Jahre lang in Damaskus gefangengehalten und misshandelt worden war, bei der morgendlichen Gerichtsverhandlung freigesprochen wurde. »Das ist eine gute Nachricht«, mein Anas Dschuda. »Tausende Gefangene warten noch auf das Privileg, wie Masen Darwisch endlich eine Gerichtsverhandlung zu bekommen, in der ihre Unschuld festgestellt werden kann«, diktiert er in den Notizblock. Sicherlich habe die internationale Öffentlichkeit dazu beigetragen, dass Darwisch die Haft überlebt habe und nun freigesprochen worden sei. Er sei überzeugt, dass er im Land bleibe und »dabei sein wird, wenn wir Syrien neu wiederaufbauen«. Zu einem Kollegen von Darwisch, der nach seiner Freilassung direkt in die USA ausgereist war, meint Dschuda nur: »Weg ist er, na ja. In die Arme von ›Mama Amerika‹.«

Bis Anfang 2015 koordinierte Dschuda zivilgesellschaftliche Projekte in der Organisation »Den syrischen Staat aufbauen« (BSS). Nachdem jedoch die Gründungsmitglieder Muna Ghanem und Luai Hussein Syrien im Mai verlassen hatten, ist die Gruppe auseinandergebrochen. Die meisten der jüngeren »BSS-Kader« seien nicht mehr in Syrien, sagt Dschuda und lacht: »Viele von ihnen können Sie heute in Deutschland interviewen.«

Dschuda blieb nicht viel Zeit, sich nach dem ersten Schock neu zu orientieren. Die Lage schreie geradezu nach politischem Engagement, um das Blutvergießen endlich zu stoppen. Er und Freunde seien nun dabei, eine neue Plattform zu bilden, um die in der Heimat Gebliebenen für die Rettung Syriens zu organisieren.

Wichtig sei, dass der Westen aufhöre, die »Legitimität« von Präsident Baschar Al-Assad anzuzweifeln, so Dschuda auf die Frage, welche Rolle das Ausland dabei spiele. Wenn man endlich bereit sei, mit der syrischen Armee gegen den Terrorismus des »Islamischen Staats« (IS) zu kämpfen, werde die Regierung an anderen Punkten einlenken. »Es ist jetzt nicht die Zeit für große Träume«, stellt der Anwalt nüchtern fest. Die politische Opposition dürfe sich nichts vormachen. »Wir waren nie mehr als eine Randerscheinung.« Denn selbst wenn die Führung in Damaskus sich auf eine »Regierung der nationalen Einheit« mit Oppositionskräften einlassen würde, »können wir gar keine Politiker dafür finden«. Natürlich sei die Regierung dafür verantwortlich, weil sie politische Opposition in Syrien nicht zugelassen habe, fährt Dschuda fort. Wenn sie also heute die Opposition einbeziehen wolle, müsse sie Gegenleistungen bringen. Die Syrer hätten in den vergangenen fünf Jahren »90 Prozent aller Karten« in dem »Spiel um Syrien« verloren. Jetzt hätten alle möglichen Staaten und Regierungen im Land das Sagen. »Die Regierung muss zeigen, dass sie einen Staat vertritt, den es zu retten gilt. Sie muss es ermöglichen, sich politisch und sozial zu betätigen.« Dabei sei es egal, ob man für oder gegen die Regierung sei, wichtig sei es, das Land zu stabilisieren und die Gesellschaft zu stärken. Für Anas Dschuda und seine Mitstreiter geht es dabei vor allem darum, Aktivitäten auf lokaler Ebene zu stärken. »Die Bevölkerung will endlich wieder ein sicheres Leben führen. Die Kinder sollen zur Schule gehen, sich eine Zukunft aufbauen.« Es gehe darum, eine soziale Bewegung »tief zu verankern«, die sich an die Seite der Menschen stellt und deren Kapazitäten fördere. Anwälte, Ingenieure, Ärzte und Lehrer, die in ihrer Umgebung sozial verwurzelt seien, könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Lokal bekannte Persönlichkeiten, die sich in den Versöhnungskomitees engagiert hätten, seien wichtige Ansprechpartner. Die Jugend müsse gefördert werden, denn sie sei die Basis jeder Entwicklung. Es sei »eine Katastrophe«, dass so viele junge Leute das Land verließen. »Wir wollen, dass sie zurückkommen.«

Die vielen Fronten in Syrien und die anhaltende Gewalt werden mittlerweile mit zunehmender Offenheit und Kritik in Facebook-Foren debattiert. »Wir haben eine Bewegung, die loyal zum Präsidenten und zur Armee steht, sich gleichzeitig aber sehr kritisch äußert«, sagt Bassam Haschem vom Nationalen Zentrum für Forschung und Meinungsumfragen in Damaskus. »Sie will verhindern, dass der Staat zerbricht, und gleichzeitig will sie die Strukturen erneuern.« Sie stelle weniger politische als vielmehr soziale Forderungen. »Korruption, Gesetzlosigkeit, Arbeitslosigkeit« würden kritisiert. »Kinder lernen, mit einer Waffe umzugehen, anstatt in die Schule zu gehen.« Der Wiederaufbau Syriens solle diesen Stimmen zufolge nicht mit der Türkei oder den Golfstaaten bewerkstelligt werden, sondern »nur mit den Staaten, die zu uns gestanden haben«. Ausdrücklich erwähnt Bassam Haschem die BRICS-Staaten – Brasilien, Indien, China, Russland und Südafrika. Die »neue Bewegung« – mit der offenbar auch führende Wirtschaftsvertreter in Damaskus sympathisieren – artikuliere sich bisher nur auf Facebook, doch sei sie unübersehbar. »Sie hat das Potential, unser Land neu aufzubauen.«

Hilfsorganisationen fehlen die Helfer

Die Nachrichtenagentur IRIN des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) warnt vor der Abwanderung von Fachkräften aus Syrien. Jede Hilfsorganisation in Syrien habe in den vergangenen Wochen und Monaten ihre besten und qualifiziertesten Mitarbeiter verloren, weil diese das Land Richtung Europa verlassen hätten, heißt es in einer Stellungnahme vom 7. September. Es fehlten Ärzte, Krankenschwestern, Ingenieure – die Abwanderung aus Syrien hinterlasse »riesige Lücken« bei den Hilfsorganisationen. Es sei sehr schwierig geworden, »die Menschen, die auf Hilfe angewiesen seien, weiterhin zu unterstützen«.

Die Abwanderung betrifft dem Bericht zufolge sowohl Organisationen, die mit der »offiziellen«, vom Westen unterstützten Opposition kooperierten, als auch internationale Hilfsorganisationen, die von Damaskus aus operierten. So habe die »Einheit zur Koordination von Unterstützung«, die ihren Sitz im türkischen Gaziantep hat, wie viele andere Hilfsorganisationen der Opposition ihre Fachkräfte verloren.

Gaziantep, das etwa 60 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt, sei demnach der Umschlagplatz für humanitäre Hilfe in den Gebieten in Syrien, die von der Opposition »kontrolliert« würden, heißt es in dem IRIN-Report. Das Leben in Gaziantep sei aber inzwischen sehr teuer geworden. Für ein normales Appartement, das vor zwei Jahren noch rund 230 US-Dollar Miete gekostet habe, müssten nun bis zu 330 US-Dollar bezahlt werden. Man könne den Fachkräften nicht genug Gehalt bezahlen, also wanderten sie ab nach Europa. Ein Problem sei, dass ausländische Fachkräfte ein besseres Gehalt erhielten als lokale syrische Mitarbeiter. Selbst wenn die Arbeit die gleiche sei, erhalte der ausländische NGO-Mitarbeiter im Durchschnitt ein doppelt so hohes Gehalt wie der lokale. Gleichzeitig müssten letztere ein größeres Risiko eingehen: »Ausländische Mitarbeiter dürfen nicht in Syrien arbeiten, weil das Risiko, entführt zu werden, sehr hoch ist. Für syrische Mitarbeiter bedeutet das, sie bekommen weniger Geld und arbeiten unter höherem Risiko.« (kl)