junge Welt, 15.09.2015

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»Kurden töten«

Türkische Nationalisten machen mobil gegen Kurden in Deutschland

Von Nick Brauns

Parallel zu pogromähnlichen Ausschreitungen gegen Parteibüros der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Westtürkei und dem gewaltsamen Vorgehen der Armee gegen kurdische Städte machen türkische Nationalisten in Deutschland mobil. So gingen in Berlin, Hamburg, Stuttgart, Mannheim, Frankfurt, Hannover und weiteren Städten in den letzten Tagen Tausende türkischstämmige Bürger »gegen den Terror der PKK«, »gegen Separatismus« und »zum Gedenken an die gefallenen Soldaten« auf die Straße. Angemeldet wurden die Kundgebungen von Personen aus dem Umfeld der religiös-konservativen türkischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan sowie des sonst als scharfe Opposition auftretenden kemalistischen Türkischen Jugendbundes TGB. Nationalfahnen, Bilder von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der Wolfsgruß und die Halbmondfahnen der faschistischen »Grauen Wölfe« sowie der Ruf »Allah ist groß« dominierten die Aufmärsche. Auf Schildern machten einige Demonstrationsteilnehmer zwar deutlich, dass sich ihr Protest nicht gegen »die Kurden« richte, sondern die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) der »Feind« sei. Doch Augenzeugen berichteten gegenüber junge Welt, dass aus einer Demonstration in Berlin der Ruf »Kurden töten« ertönte. Tatsächlich kam es im Anschluss an die nationalistischen Aufmärsche in mehreren Städten zu Überfällen auf Kurden und Linke.

So wurde am Samstag in Hannover ein 26jähriger Flüchtling aus Syrien von einem türkischen Nationalisten mit einem Messerstich am Hals lebensgefährlich verletzt. Das Opfer sei aufgrund seiner Sprache als Kurde identifiziert worden, berichtete das Demokratische Gesellschaftszentrum der Kurden in Deutschland, Nav-Dem. Der Verletzte ist nach einer Notoperation laut Polizei inzwischen außer Lebensgefahr. Gegen den 50jährigen Angreifer, einen türkischstämmigen Deutschen, der zuvor an einer antikurdischen Kundgebung teilgenommen hatte, wird wegen eines versuchten Tötungsdelikts ermittelt. In Berlin überfielen am Sonntag rund 70 türkische Faschisten im Anschluss an eine antikurdische Demonstration Informationsstände der HDP am Kottbusser Tor. Aus fahrenden Autos wurden Flaschen und Steine auf die Linken geworfen. Festgenommen wurden hier mehrere Kurden, die sich gegen die Angreifer verteidigt hatten. Auch im schweizerischen Bern waren am Samstag mehrere Menschen schwer verletzt worden, als ein Mercedes-Fahrer am Rand einer Kundgebung von AKP-Anhängern absichtlich in eine Gruppe Gegendemonstranten raste.

»Ermutigt von einer regelrechten Lynchatmosphäre gegen Kurden und Oppositionelle in der Türkei häufen sich nun auch vermehrt Angriffe dieser Art in Europa«, beklagt der Dachverband Nav-Dem, dem die Mehrzahl der in Vereinen organisierten Kurden in Deutschland angehören, in einer Pressemitteilung. In mehreren deutschen Städten protestierten Tausende Kurden und Linke gegen die Angriffe auf die HDP und die Belagerung von Cizre und anderen kurdischen Städten durch die Armee in der Türkei.