junge Welt, 15.09.2015

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Der Lynchmob des Sultans

Krieg gegen Kurden

Von Peter Schaber

»Ich verurteile alle Attacken und Aggressionen gegen Zivilisten und Sicherheitskräfte«, kommentierte am 9. September der Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz die jüngste Eskalation im Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung. Die Türkei brauche heute mehr denn je »die Einheit, nicht die Spaltung«. Trotz seiner weitgehend diplomatischen Stellungnahme verriet sich der deutsche Sozialdemokrat mit einem Satz: »Mein Mitgefühl und mein Beileid gehen an die Familien der Verstorbenen und an die türkische Regierung.«

Was Schulz bewusst verschwieg: Gerade letztere ist verantwortlich für das Sterben. Das Aufflammen des Bürgerkrieges zwischen Ankara und den zivilen wie militärischen Organisationen der kurdischen Bewegung hat seinen Grund nicht im mangelnden Friedenswillen der verbotenen PKK, die jetzt von türkischer wie westlicher Seite zur Ordnung gerufen wird. Es ist Teil einer Strategie des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Revision der Ergebnisse der Parlamentswahlen vom Juni dieses Jahres. Der Urnengang hatte Erdogans lange gehegte Pläne zur Etablierung einer autoritären Präsidialdiktatur zunichte gemacht. Die links-kurdische HDP nahm die Zehnprozenthürde, dem sogenannten Sultan von Ankara fehlte die nötige Mehrheit zur langfristigen Absicherung seiner Macht.

Was folgte, war eine staatlich befeuerte Gewaltentwicklung, die sich von Massenverhaftungen linker und kurdischer Aktivisten über Luftangriffe auf PKK-Stellungen und kurdische Dörfer bis hin zur Verhängung des Ausnahmezustandes über ganze Regionen. An ihrem vorläufigen Ende steht die Belagerung der südostanatolischen Kreisstadt Cizre. Dort wurde mit brachialer Gewalt der Wunsch der Bevölkerung nach Selbstbestimmung gebrochen. Scharfschützen die Zivilisten töten und der gezielte Raketenbeschuss von Wohngebieten durch die türkische Armee prägten die Situation in der über 100.000 Einwohner zählenden Stadt.

Gleichzeitig mit der staatlichen Gewalt tobt ein Lynchmob, der sich aus Anhängern der Regierungspartei AKP sowie der faschistischen Grauen Wölfe zusammensetzt. In den türkischen Metropolen – und neuerdings auch in Deutschland – macht er Jagd auf Kurden. Weit über hundert Büros der HDP wurden verwüstet und in Brand gesetzt, kurdische Arbeiter verprügelt, in Hannover schwebt ein kurdischer Demonstrant nach einem Messerangriff in Lebensgefahr. Der Lynchmob ruft: »Gott ist groß« und »Recep Tayyip Erdogan«. Sein Programm fasst er in einer Parole zusammen: »Wir wollen keine Polizeioperationen, wir wollen Massaker!« Dieser Forderung kommt das Regime in Ankara gerne nach. Das Beileid von Sozialdemokraten wie Martin Schulz ist ihm dabei sicher.