junge Welt, 16.09.2015

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Wahltaktischer Krieg

Ankara attackiert Zivilbevölkerung, Opposition und kritische Medien

In der Türkei scheint die Rechnung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP nicht aufzugehen, durch eine Eskalation der innenpolitischen Lage wieder eine absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen. Bei den Wahlen im Juni hatte die Regierungspartei erstmals seit 2002 ihre Mehrheit in der Legislative verloren, weil die linke und prokurdische Demokratische Partei des Volkes (HDP) die in der Türkei geltende Zehn-Prozent-Hürde überwinden konnte. Weil die Suche nach einem Koalitionspartner scheiterte, rief die AKP Neuwahlen für den 1. November aus.

An den Mehrheitsverhältnissen im Parlament wird sich jedoch wohl wenig ändern. Wie aus einer am Montag abend durch das Institut Metropoll vorgelegten Umfrage hervorgeht, hat die AKP gegenüber der Wahl im Juni nur leicht um 0,5 Prozentpunkte auf 41,4 Prozent zulegen können. Die HDP erreichte bei der Anfang September erstellten Prognose 13 Prozent und blieb damit nur geringfügig unter dem bei der Parlamentswahl erzielten Ergebnis von 13,1 Prozent. Man werde sich durch den »Staatsterror« des Regimes nicht vom eigenen Weg abbringen lassen, kündigten die HDP-Fraktionschefs Idris Baluken und Pervin Buldan am Montag in Ankara an. Sie warfen den Sicherheitskräften vor, gezielt Abgeordnete ihrer Partei zu attackieren.

Hauptopfer des wahltaktischen Krieges durch Erdogan ist jedoch die Zivilbevölkerung. Neun Tage lang wurde etwa die kurdisch geprägte Stadt Cizre vom Militär abgeriegelt. Am Dienstag konnte der Chef der deutschen Grünen, Cem Özdemir, die Stadt besuchen. Angesichts der Kampfschäden warf der Politiker den türkischen Sicherheitskräften vor, bei ihrem Vorgehen gegen mutmaßliche PKK-Kämpfer schwere Waffen gegen die Bevölkerung eingesetzt zu haben. Das sei durch nichts zu rechtfertigen.

Unterdessen verschärft das Regime die Repression gegen regierungskritische Medien. Die Staatsanwaltschaft leitete am Dienstag Ermittlungen wegen der »Verbreitung terroristischer Propaganda« gegen den Medienkonzern Dogan ein. Zu dem Unternehmen gehören unter anderem die Zeitung Hürriyet und der Fernsehsender CNN Türk. Anlass für das Verfahren ist einem Bericht der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge die Veröffentlichung unzensierter Fotos von getöteten Soldaten und von Mitgliedern der PKK bei den jüngsten Kämpfen. (dpa/Reuters/AFP/jW)