junge Welt, 17.09.2015

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AKP attackiert Medien

Türkei: Neue Gefechte im Südosten des Landes. Ermittlungen wegen Berichterstattung

Von Güney Isikara, Max Zirngast/Ankara

Die Lage in der Türkei ist weiterhin angespannt. Nachdem die Blockade von Cizre nach Massenprotesten am Samstag aufgehoben worden war, haben sich die Gefechte in andere Städte im kurdisch dominierten Südosten des Landes verlagert. Die Bevölkerung demonstriert gegen die staatliche Repression, in Cizre wurden deswegen mehrfach nächtliche Ausgangssperren verhängt.

Mehrere Menschenrechtsorganisationen haben am Mittwoch einen Bericht über den acht Tage andauernden Ausnahmezustand in der kurdischen Stadt veröffentlicht. In diesem wird festgestellt, dass insgesamt 22 Zivilisten durch direkte Staatsgewalt oder an Folgen der Blockade wie fehlende ärztliche Versorgung, Hygiene oder Hunger starben. Darunter waren unter anderem ein 35 Tage altes Baby und ein 75jähriger, der dem Bericht zufolge das Haus verlassen hatte, um Brot zu holen. Er glaubte, dass ihm aufgrund seines Alters nichts geschehen würde.

Vertreter der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) haben indes mehrfach erklärt, dass in Cizre kein Zivilist zu Schaden kam, alle Toten seien »PKK-Terroristen« gewesen. Ibrahim Kalin, der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan, hat am Dienstag in einer Stellungnahme betont, dass die Sicherheitskräfte »gemacht haben, was nötig war«.
Krimisommerabo

Außerdem drohte Kalin, dass jede Solidarität mit dem kurdischen Kampf und jede »Verharmlosung von Terrorismus« als »Terrorpropaganda« angesehen und als solche geahndet werde. Bereits in der Vergangenheit wurde von der Regierungslinie abweichende Berichterstattung zum Ziel der Repressionsorgane. Diesmal betraf es den Dogan-Konzern, gegen den am Dienstag eine Untersuchung wegen »Terrorpropaganda« eingeleitet wurde. Den Medien des Unternehmens, zu dem die bekannte Tageszeitung Hürriyet und der Fernsehsender CNN Türk gehören, wird vorgeworfen, Bilder von toten Soldaten unverpixelt publiziert zu haben.

Der Dogan-Konzern befindet sich bereits seit längerem im Konflikt mit Erdogan. Zwar übernahmen auch die Dogan-Medien im aktuellen Krieg die Sprache des Staates, aber wegen der relativ neutralen Berichterstattung zur prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) vor der Wahl am 7. Juni ist der Konzern immer wieder zum Ziel von AKP-Anhängern geworden. Zuletzt wurde das Gebäude von Hürriyet in der vergangenen Woche zweimal angegriffen.

Am 1. November soll in der Türkei ein neues Parlament gewählt werden. Am vergangenen Sonntag hielt die AKP ihren Parteikongress ab. Premierminister Ahmet Davutoglu wurde als Vorsitzender bestätigt. Doch kamen Gerüchte auf, zwischen dem Regierungschef und Präsident Erdogan gebe es Differenzen. Ein Indiz dafür sei, dass der Präsident eine lange geplante Auslandsreise abgesagt hat, um vor und während des Kongresses in Ankara zu sein. Das neu gewählte Führungsgremium ist laut lokalen Medien fast ausschließlich mit Leuten aus dem engsten Umfeld von Erdogan besetzt – darunter sein Schwiegersohn Berat Albayrak.

Mustafa Karasu, ein führendes Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), verkündete unterdessen am Dienstag, die PKK sei unter bestimmten Bedingungen zu einem Waffenstillstand bereit. Dies war von der PKK-Führung seit der Wiederaufnahme des Krieges bereits wiederholt erklärt worden. Die wichtigsten Forderungen sind die Einstellung der Bombardements der von der Guerilla kontrollierten Gebiete, das Ende der Isolation des Parteivorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und die Freilassung der seit Beginn des Verhandlungsprozesses im Jahr 2013 festgenommenen politischen Gefangenen. Da Erdogan jedoch offen auf Krieg setzt, sieht es derzeit kaum danach aus, dass der Friedensvorstoß sich realisieren lässt.