jW, 17.09.2015

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Türkei droht Rezession

Politische Destabilisierung, Bürgerkrieg, fragile Wirtschaft: Anzeichen für ökonomischen Rückschlag mehren sich

Von Alp Kayserilioglu und Güney Isikara

Die Türkei schlittert in einen Bürgerkrieg. Es ist ungewiss, wie unter diesen Umständen Neuwahlen am 1. November stattfinden sollen. Auch die instabile ökonomische Situation des Landes gibt Anlass zur Sorge.

Bereits im April hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem »Global Financial Stability Report« darauf verwiesen, dass das Land in Hinsicht auf die Mehrheit der für eine Wirtschaftsschwäche relevanten Indikatoren zu den fünf verwundbarsten Länder weltweit zählt. Auch führende türkische Unternehmer und Kapitallobbyisten äußerten Anfang des Jahres ihren Unmut über die wirtschaftliche Lage. So stellte die Föderation Türkischer Arbeitgeberverbände (TISK) in einer schriftlichen Erklärung fest, dass sich die »Zeichen« für eine »Rezession« verstärken. Die regierende »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) versucht zu beschwichtigen und die Lage schönzureden. Premierminister Ahmet Davutoglu erklärte Mitte August vor Journalisten, dass »wir ... nicht von einer permanenten und strukturellen Krise sprechen« könnten.

Alarmierend für Unternehmen und Regierung sind vor allem die Entwicklung der Wechselkurse, der Kapitalabfluss, die Exporte und der Zustand der Industrie. Der Euro ist seit Beginn dieses Jahres von 2,82 Türkische Lira (TL) auf 3,45 TL gestiegen. Gegenüber dem US-Dollar verbilligte sich die Lira in derselben Periode um 30 Prozent von 2,34 auf 3,04 TL. Dieser Abwertung entspricht eine Aufwertung der Verbindlichkeiten, die in Dollar und Euro ausgewiesen werden. Die Auslandsverschuldung belief sich im Jahr 2014 auf 49 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Tendenz steigend.

Der niedrigere Außenwert der Lira hat mehrere Gründe. Einerseits kündigt die US-Notenbank Fed seit geraumer Zeit an, die Zinsen bald anzuheben (am heutigen Donnerstag wird eine entsprechende Entscheidung aus Washington erwartet; jW). Das führte zu einer Bewegung hin zum Dollar und weg von den Ländern der Peripherie. Seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 war zinsgünstiges Geld der Notenbanken weltweit investiert worden, um hohe »Renditen« zu erzielen.

Etwa 42 Prozent der türkischen Auslandsschulden bestehen nach Recherchen des Analysten Mustafa Sönmez (mustafasonmez.net) aus kurzfristigen Anlagen und Krediten. Deren »Investoren« reagieren besonders empfindlich auf politische Instabilitäten: Die zunehmende Aggressivität der AKP sowie der von ihr nach den Wahlen vom 7. Juni provozierte Krieg gegen die kurdische Bevölkerung (angeblich richtet er sich gegen die PKK), hatten die Gläubiger zusätzlich verschreckt. Sönmez zufolge flossen im Zeitraum von August 2014 bis zum August 2015 insgesamt etwa 30 Milliarden US-Dollar an kurzfristigen Anlagen wieder aus der Türkei ab.

Die politische Instabilität im Staat beeinflusst nicht nur den Wechselkurs negativ. Auch das Wachstum in der Tourismusbranche ging im ersten Halbjahr 2015 nach Angaben des Onlinepotals Hurriyet Daily News um neun Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Die Istanbuler Börse verzeichnete einen Wertverlust von 20 Prozent.

Normalerweise führt ein Sinken des Außenwertes der Landeswährung zu besseren Exportchancen. Das ist aktuell in der Türkei nicht der Fall. Trotz der Abwertung der Lira sind die Warenausfuhren zwischen Januar und August 2015 um 8,9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Das wiederum hat primär äußere Gründe: Wichtige Exportziele, wie die Euro-Zone und Russland, kämpfen selbst gegen die Auswirkungen ökonomischer Verwerfungen und sind Auslöser bzw. Ziel politisch motivierter Sanktionen. Sie fragen deshalb weniger Waren nach.

Es gibt aber auch interne Gründe: So hob der Analyst William Jackson von Capital Economics London laut Hürriyet Daily News hervor, dass die Wirtschaft mit schwacher Wettbewerbsfähigkeit zu kämpfen habe. Das ist deshalb besonders gravierend, weil die Industrie im G-20-Staat (Gruppe der 20, umfasst wirtschaftlich stärksten Industrie- und »Schwellenländer«) primär auf Niedrigtechnologie und prekären Arbeitsbedingungen aufbaut, deshalb keine Anpassungsflexibilität besitzt. Zugleich wird das Land seit Anfang des Jahres 2015 von einer Streikwelle im Automobil- und Metallsektor erschüttert. Es waren im wesentlichen Reaktionen auf Niedriglöhne und desaströse Arbeitsbedingungen. Der Vorsitzende der Istanbuler Industriekammer, Erdal Bahcivan, sagte laut Hürriyet Daily News, dass die Gewinne der 500 größten Unternehmen seines Wirtschaftsbereichs vor Zinsen und Steuern schon im Jahre 2014 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 6,4 Prozent auf 30 Milliarden TL gesunken seien.

Zwar halten sich im Gegensatz zur Industrie die großen Holdings, insbesondere im Banken- und Finanzsektor, gut im Geschäft und konnten 2015 ihre Profitmargen erhöhen. Die staatliche Bankenaufsichtsbehörde (BDDK) meldet elf Prozent höhere Gewinne für den gesamten Bereich in der ersten Hälfte 2015 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Andererseits ist das Verhältnis der Schulden privater Haushalte zu deren verfügbarem Einkommen innerhalb der AKP-Periode (2003 bis 2014) von 5,1 Prozent auf 51 Prozent gestiegen. Platzt diese Kreditblase, kann das den ganzen Bankensektor mitreißen.

Neben der politischen Krise ist die AKP derzeit also auch mit ökonomischer Instabilität konfrontiert. Die Wirtschaft kann jederzeit implodieren und zwar insbesondere dann, wenn das aktuelle politische Chaos weiter andauert. Dafür ist allerdings nicht nur die AKP mit ihren Machtspielen verantwortlich. Es ist der außen- und finanzmarktabhängige Neoliberalismus in der Türkei, der von der »Gerechtigkeitspartei« erst forciert und dann vertieft wurde und jetzt an seine Grenzen stößt. Auch eine Regierung, die die AKP eventuell ablöst und die politische Krise beendet, wird diese ökonomische Instabilität erben.