junge Welt, 18.09.2015

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Orchestrierte Gewalt

Konflikt in der Türkei: Nicht der PKK fehlt es an Friedenswillen. Staatspräsident Erdogan braucht den Krieg für seinen Machterhalt

Von Peter Schaber

Keine Kooperation mit Ankara

Die Linke in Deutschland kritisiert die anhaltende Kooperation mit der Führung in Ankara. »Wer wie die Bundesregierung weiter Waffen an das AKP-Regime liefert, macht sich mitschuldig an den getöteten Zivilisten in der Türkei«, erklärte Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag und Vizevorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, bereits in der vergangenen Woche. Es sei absehbar, »dass die Tatenlosigkeit der Bundesregierung gegenüber der Kriegspolitik Erdogans zu massiven Fluchtbewegungen aus der Türkei auch nach Deutschland führen wird«. Die Bundesregierung dürfe zur »Kriegspolitik Erdogans« nicht länger schweigen, so die Linke-Abgeordnete. Vor dem Hintergrund der vom türkischen Staatspräsidenten betriebenen Eskalation und der Verfolgung Oppositioneller durch Schlägertrupps der AKP müsse die Bundesregierung »ihre Kumpanei mit Erdogan beenden, und damit auch die sicherheitspolitische Zusammenarbeit«.

Die Linke in Bremen fordert als »überfällige Sofortmaßnahme« die Aussetzung des Polizeiabkommens zwischen der Hansestadt und dem türkischen Izmir. »Eine Kooperation im nichtzivilen Bereich bedeutet aktuell, sich an Unterdrückung und polizeistaatlichen Strukturen zu beteiligen«, so Cindi Tuncel, friedenspolitischer Sprecher der Linksfraktion in der Bremischen Bürgerschaft. Seit dem Jahr 2000 bestehe eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Polizei Bremen und der Polizeibehörde der Partnerstadt Izmir. Inhalt sei u.a. ein polizeitaktischer Erfahrungsaustausch mit zwei 14tägigen Hospitationen pro Jahr. »Es gibt derzeit leider keinen Grund, die freundschaftliche Fassade und ›Amtshilfe‹ zwischen den Polizeien der Partnerstädte aufrechtzuerhalten. Der rot-grüne Senat muss spätestens jetzt Farbe bekennen«, forderte Tuncel. (jW)
Zehn junge Männer, einige von ihnen in türkische Fahnen gehüllt, versuchen, durch eine Polizeikette zu brechen. »Wir kriegen euch, ihr Hurensöhne«, rufen sie. Auf der anderen Seite der Straße, getrennt durch die behelmten Beamten, stehen kurdische Demonstranten. Sie rufen einen Slogan der kurdischen Frauenbewegung: »jin jiyan azadi« – Frauen, Leben, Freiheit. Die Situation geht glimpflich aus, die beiden Lager bleiben getrennt, nur später am Abend kommt es zu kleineren Auseinandersetzungen. Der Ort dieser Konfrontation liegt nicht in Anatolien. Es ist Berlin-Kreuzberg, wo sich diese Szenen abspielen.

In vielen deutschen Städten mobilisierten in den vergangenen Tagen Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP zusammen mit den nationalistischen Schlägertrupps diverser türkischer Kampfsport- und Rockervereine aus dem Umfeld der faschistischen »Grauen Wölfe« zu Großdemonstrationen »gegen den Terror«, so der Euphemismus für die organisierte Jagd auf Kurden und Linke. Die Methoden, auf die der rechte Mob dabei zurückgreift, sind nicht zimperlich: In Hannover erlitt ein junger Mann aus Rojava einen Messerstich in den Hals, in Bern raste ein Nationalist in eine Menschenmenge und verletzte zehn kurdische Demonstranten.

Dem Aufflammen der Gewalt in Europa gingen pogromartige Ausschreitungen in der Türkei voraus. Weit über hundert Versammlungsorte der linkskurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) waren angegriffen worden, kurdische Zivilisten wurden verprügelt, während der Lynchmob in Slogans den Staat aufforderte, »Massaker« an den Kurden zu begehen.
Genossenschaft

Offensichtlich ist: Dies sind nur bedingt »spontane« Reaktionen von Faschisten und Nationalisten auf die Eskalation im Krieg zwischen Ankara und den Kurden. Vielmehr handelt es sich um staatlich angeleitete Gewalt. Am deutlichsten wurde das während der Übergriffe auf die oppositionelle Tageszeitung Hürriyet in Istanbul. Bevor etwa hundert Männer mit Steinen und Stöcken die Redaktionsräume der Zeitung angriffen, wurden sie von einem AKP-Parlamentarier, Abdurrahim Boynukalin, aufgehetzt. Er betonte, es gebe keinen Unterschied mehr zwischen HDP, PKK oder der Erdogan-kritischen Presse, allesamt seien als »Terroristen« anzusehen: »Wir haben diesen Männern nur eines zu sagen. (…) Was auch immer das Ergebnis der Wahlen am 1. November sein wird, wir werden Erdogan zum Präsidenten machen.« Nach dem Angriff zeigte der Parlamentarier wenig Reue. An Sedat Ergin, Chefredakteur der Hürriyet, und den Kolumnisten Ahmet Hakan gerichtet, betonte er: »Unser Fehler war, dass wir sie in der Vergangenheit nicht zusammengeschlagen haben.«

Boynukalin spricht offen aus, was Ziel der Clique rund um Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) ist: Das von der Bevölkerung in den vergangenen Wahlen abgelehnte Projekt der Installierung einer autoritären Präsidialdiktatur unter einem in seiner Macht gefestigten Erdogan soll nun auf anderen Wegen durchgesetzt werden. Ist die Bevölkerung der Türkei nicht willig, so braucht es Gewalt. Die Reaktionen der Regierungspartei AKP auf die Aktivitäten ihres Parlamentariers zeigen, dass keinerlei Versuch mehr unternommen wird, diese Strategie zu verschleiern. Boynukalin wurde befördert. Premier Ahmet Davutoglu erklärte, er stimme zwar den Anmerkungen Boynukalins nicht zu, es habe sich bei den Hetztiraden aber um »Bemerkungen in einer freundlichen Umgebung von Menschen, die Slogans riefen« gehandelt. Diese hätten keine »schlechten Absichten« verfolgt.

Während der vermeintlich »spontanen« Aufmärsche der Faschisten blieb auch der Staat selbst nicht untätig. Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte im südostanatolische Cizre wurde zu einem Vorboten des von der Regierung gewollten Bürgerkriegs. Die Menschenrechtsorganisationen IHD, TIHV und PHD stellten fest, dass die Bevölkerung der mehrheitlich kurdischen Stadt nicht nur durch die tagelange Ausgangssperre drangsaliert wurde, sondern der Staat auch gezielt Zivilisten tötete.

Die der PKK nahestehende Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) verlautbarte mittlerweile, dass man durchaus zu einem beiderseitigen Waffenstillstand bereit sei. Die Isolation des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans, Abdullah Öcalan, müsse allerdings beendet und der Wille des kurdischen Volks nach Selbstbestimmung respektiert werden. Allein, der Gegenseite mangelt es an Friedenswillen. Das gesamte Vorgehen der türkischen Regierung nach den vergangenen Parlamentswahlen hat eines ganz klar gezeigt: Recep Tayyip Erdogan ist bereit, sein Land ins Chaos zu stürzen, um seine Macht zu erhalten.