welt.de, 18.09.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article146542958/Christen-behandeln-uns-besser-Wir-wollen-weg.html

"Christen behandeln uns besser. Wir wollen weg"

Der türkische Präsident Erdogan rühmt sich damit, Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen zu haben. Glücklich sind die in der Türkei nicht. Tausende sind noch auf dem Weg nach Deutschland. Von Deniz Yücel

Foto: AFP Ein Flüchtling in der Nähe des Istanbuler Busbahnhofs Esenler macht sich zu Fuß auf den Weg, nachdem ihm ein Fahrschein verweigert worden ist

"Die Türkei ist ein muslimisches Land", sagt Samira. "Aber die Christen behandeln uns besser. Wir wollen nach Europa – Deutschland, Italien, bloß weg von hier." An diesem Donnerstag sitzt sie mit etwa 50 weiteren Flüchtlingen vor der Moschee des Busbahnhofs von Istanbul. Die meisten Flüchtlinge haben die Polizisten in die Moschee hereingelassen. Warum Samira mit ihrer Familie und die übrigen Flüchtlinge hier vor einer Mauer kauern, ist nicht ganz klar. "Drinnen ist kein Platz mehr", sagt der befehlshabende Polizist. "Wir haben heute Mittag alle, die hier waren, reingenommen. Jetzt hat sich der Platz hier schon wieder gefüllt."

Die 26-jährige Samira ist eine Kurdin aus der zerstörten syrischen Stadt Aleppo. Mit ihrem Ehemann und ihrem fünfjährigen Sohn Yusuf leben sie seit drei Jahren in Istanbul – drei von rund zwei Millionen Flüchtlingen (Link: http://www.welt.de/themen/fluechtlinge) aus Syrien, die die Türkei seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges aufgenommen hat. Wiederholt hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan) sich damit gerühmt und den europäischen Staaten vorgeworfen, wegen ein paar Tausend Flüchtlingen den Kopf zu verlieren. Falsch ist dieser Hinweis nicht. Nur die andere Seite der Geschichte, die erzählen die Menschen, die über das Mittelmeer nach Griechenland und von dort weiter wollen. "Mein Mann hat hier in einer Textilfabrik gearbeitet", sagt Samira. "Aber er hat nur 1000 Lira verdient", also umgerechnet 330 Euro. "Miete, Strom, Wasser – das Leben hier ist zu teuer." Außerdem leide ihr Sohn an einer Krankheit, für die sie sich die Behandlung nicht leisten könnten. Sie zeigt auf den bandagierten Fuß des Jungen. Um zu erklären, was für eine Krankheit das ist, reicht das Türkisch, das sie hier gelernt hat, nicht aus.

Vor einem Jahr habe sie mit ihrer Familie versucht, mit dem Boot auf eine griechische Insel zu kommen, sie seien aber von den türkischen Behörden aufgehalten worden. "Das Wasser ist zu gefährlich." Jetzt hätten sie über eine Facebook-Gruppe erfahren, dass man gemeinsam über Land zur griechischen Grenze wolle, und sich angeschlossen. Ob sie dafür Geld bezahlt hat, sagt sie nicht. Weiter als bis zum Busbahnhof hat es diese Familie bislang nicht geschafft. Und selbst in die Moschee wird sie derzeit nicht reingelassen.

Wie viele Menschen dort im Moment sind, ist nicht klar. Die Angaben schwanken zwischen 1200 und 2000. Die meisten leben offenbar schon länger in der Türkei. Aber einige, wie die drei jungen Männer aus Bagdad, die gleich neben Samira sitzen, sind erst vor wenigen Wochen gekommen.

"Es sind noch Tausende unterwegs", sagt Mohammed und zählt türkische Städte in der Grenzregion zu Syrien auf: Urfa, Antakya, Reyhanli. Der 22-jährige sagt, dass er aus Damaskus stamme und die Facebook-Gruppe gegründet habe. Er trägt ein Plastikschild um den Hals und verhandelt hinter der Absperrung mit Polizisten. Was genau seine Rolle ist, bleibt unklar. Aber offenbar akzeptiert die Polizei, die auch keine Journalisten mehr in die Moschee lässt, ihn als eine Art Vermittler. Eigentlich wollten sie mit dem Bus weiter bis in die 300 Kilometer westlich von Istanbul gelegenen Grenzstadt Edirne; viele hätten schon Fahrkarten gekauft. Doch die Busse würden keine Flüchtlinge mehr transportieren. "Wir gehen nicht zurück", sagt Mohammed. "Wir wollen nach Deutschland, nach Europa." Und wenn Deutschland und Europa sie nicht aufnehmen wollen? "Europa muss helfen. Oder die Vereinten Nationen", sagt er.

Drohte die Türkei Flüchtlingen mit Gewalt?

Derweil haben es amtlichen Angaben zufolge rund 1600 Flüchtlinge bis in die Stadt Edirne geschafft. Von dort sind es noch knapp 20 Kilometer zur Grenze nach Bulgarien – und nur acht Kilometer bis Griechenland. Die Flüchtlinge hatten sich mit Bussen, manche sogar von Istanbul aus zu Fuß auf den Weg gemacht und sind nun seit zwei, einige seit drei Tagen dort.

Wie ein Sprecher des Gouverneurs von Edirne, der als oberster Beamter der Provinz Befehlsgewalt über die Polizei hat, der "Welt" am Telefon sagte, wurde über die Hälfte vor den Toren der Stadt von Sicherheitskräfte aufgehalten. Eine weitere Gruppe befinde ich am Busbahnhof von Edirne, eine Gruppe von 200 Flüchtlingen in einem Park im Stadtzentrum. Sie alle würden von einer staatlichen Hilfsorganisation mit Zelten, Wasser und Nahrungsmitteln versorgt, die Behörden hätten mobile Toiletten und Duschen zur Verfügung gestellt.

Berichte türkischer Medien, wonach Gouverneur Dursun Ali Sahin den Flüchtlingen eine Frist von drei Tagen zur Rückkehr gewährt habe und andernfalls Gewalt einsetzen werde, wies der Sprecher zurück. Stattdessen sei man im Kontakt mit dem Büro des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. "Wenn nichts dazwischenkommt, werden Vertreter der Flüchtlinge am Freitag in Ankara den Ministerpräsidenten treffen. Wir wollen sie überzeugen, in die türkischen Provinzen zurückzukehren, in denen sie registriert sind", sagte der Sprecher. Seiner Vermutung nach seien diese Flüchtlinge, die meisten davon Syrer, nicht erst vor kurzer Zeit in die Türkei eingereist, sondern würden sich schon im Land aufhalten. Wie viele Kinder unter ihnen sind, konnte der Sprecher nicht sagen.

Bulgarien postiert Soldaten an der Grenze

Dafür wies er noch einen Medienbericht zurück: Die Flüchtlinge seien nicht im Hungerstreik, sagte er. Zwar habe eine solche Idee unter den Flüchtlingen kursiert, jedoch hätten die Behörden sie davon abbringen können. Eine Korrespondentin der Nachrichtensenders CNN Türk berichtete zur selben Zeit, dass sich rund 800 Flüchtlinge, die an der Autobahn campieren, seit Mittwochabend im Hungerstreik befänden. Auch die Kinder seien im Hungerstreik. "Wir werden nicht zurückkehren und den Hungerstreik fortsetzen, bis die Grenze nach Griechenland geöffnet wird", zitierte der Sender einen Vertreter der Flüchtlinge. Von dort aus wollten sie weiter nach Deutschland. "Wir wollen kein Wasser und Brot, wir wollen, dass die Grenzen geöffnet werden", zitierte das oppositionelle türkische Nachrichtenportal "Bianet" Flüchtlinge vom Busbahnhof in Edirne.

Wegen der "komplizierten Situation" habe Bulgarien damit begonnen, bis zu tausend Soldaten entlang der Grenze zur Türkei zu postieren, sagte am Donnerstag ein Vertreter des bulgarischen Innenministeriums. In der Nacht hätten 660 Flüchtlinge versucht, über die Grenze zu gelangen. Sie seien von den bulgarischen Grenzschützern entdeckt und daraufhin von den türkischen Kollegen abgefangen worden.