Süddeutsche Zeitung, 19.09.2015 Kurden-Konflikt in der Türkei Bürgerkrieg im Brennglas Neun Tage lang hat das türkische
Militär die Kurden-Stadt Cizre abgeriegelt. Auf den Straßen kämpfte das
Militär gegen die PKK-Jugend. An der Stadt zeigt sich im Kleinen, was
im schlimmsten Fall das ganze Land ergreifen könnte. Abgebrannte Gebäude, Einschusslöcher, zerfetzte Sandsäcke: Die Bilder aus Cizre erinnern an einen Bürgerkrieg. "Die Menschen hier haben Schreckliches durchgemacht", sagt der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir, der diese Woche in Cizre war. Zehn Tage lang hatte das türkische Militär dort eine umstrittene Ausgangssperre verhängt und gegen bewaffnete kurdische Rebellen gekämpft. Die prokurdische HDP-Partei, die die Stadt regiert, sprach hinterher von 21 toten Zivilisten - darunter auch Frauen und Kinder. Erst am Montag hob das Militär die Ausgangssperre auf. Endlich konnten die rund 110 000 Einwohner der Stadt im Südosten der Türkei ihre Häuser verlassen und ihre Toten begraben. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung verurteilt Özdemir die Gewalt beider Konfliktparteien mit deutlichen Worten: "Es ist falsch, Jugendliche zu bewaffnen, wie die PKK es in Cizre anscheinend tut. Genauso falsch ist es aber, diese Jugendlichen mit schwerem Geschütz zu beschießen. Mit dieser Politik treibt Präsident Erdoğan die Jugendlichen in die Arme der PKK." Bereits am Dienstag hatte der
Grünen-Parteivorsitzende gewarnt, der seit Juli eskalierende Konflikt
mit der PKK könnte zum Flächenbrand werden. "Dieser Konflikt hat
das Potenzial, die Türkei in den Bürgerkrieg zu führen." Der Satz
ist interessant, denn fast genau so hat ihn vor wenigen Wochen auch die
28-jährige Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, gegenüber VICE-NEWS
gesagt. Mit verheerenden Folgen: Türkische Zeitungen verdrehten ihre Aussage,
berichteten die Stadt hätte der Türkei den Krieg erklärt. Kurzerhand wurde
sie daraufhin von Innenminister Selami Altinok ihres Amtes enthoben. Man
wirft ihr Propaganda für die PKK vor. Der Fall von Leyla Imret ist symptomatisch für die Mittel, mit denen die regierende AKP von Präsident Erdoğan gerade versucht, HDP-Abgeordnete in die Nähe der PKK zu rücken und so als Terroristen zu diskreditieren. Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft jetzt auch gegen den HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş ermitteln will und beim Justizministerium die Aufhebung seiner Immunität beantragt hat. Imret selbst will oder kann zu den Angriffen nichts Konkretes sagen. Nur so viel: Sie glaubt, dass es mit dem Wahlerfolg der HDP in den Parlamentswahlen im Juni zu tun habe. Es ist ein Vorwurf, den man mittlerweile oft hört: Dass Präsident Erdoğan aus der Eskalation des Konflikts innenpolitisches Kapital schlagen will. Denn bis kurz vor den Wahlen sah es so aus, als könnte der langersehnte Frieden zwischen türkischer Regierung und PKK bald Wirklichkeit werden. Dann änderte Erdoğan plötzlich seine Strategie und schlug harte, militaristische Töne an. Er weigerte sich, den bedrängten Kurden im syrischen Kobanê im Kampf gegen den IS beizustehen, bombardierte Stellungen der Kurden im Nordirak und ließ verlauten, die PKK sei genauso gefährlich wie der Islamische Staat. All das wohl in der Hoffnung, nationalistische Wähler für sich zu gewinnen. Die Taktik ging gründlich schief, argumentiert Laurent Mignon, Türkei-Experte am Middle East Centre der Universität Oxford. "Die nationalistischen Wähler blieben fast alle der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) treu, dafür wanderten die kurdischen Wähler von der AKP zur HDP." Letztere feierte mit 13 Prozent der Stimmen einen Überraschungserfolg. Erdoğans AKP verlor zum ersten Mal in 13 Jahren die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament. Viele Kurden sehen in der derzeitigen Eskalation der Gewalt daher einen Versuch der Regierungspartei, den innenpolitischen Gegner HDP zu diskreditieren und so bei Neuwahlen im November doch noch die absolute Mehrheit zu erringen. All das ist ein gefährliches Spiel in einem Land, das eine lange Tradition des militanten Nationalismus vorzuweisen hat. Anfang September griffen Nationalisten HDP-Büros im ganzen Land mit Steinen und Brandsätzen an, andernorts wurden Kurden auf der Straße verprügelt, weil sie Kurdisch sprachen. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob die HDP sich deutlich genug vom Terror der PKK abgrenzt. Fragt man zum Beispiel Leyla Imret nach den Barrikaden und Straßengräben, die die PKK-Jugend in Cizre ausgehoben haben soll, sagt sie: "Ich habe keine Kämpfer gesehen." Straßengräben und Barrikaden habe es aber gegeben. Auch zur Gewalt der PKK will sie sich nicht äußern. Immer wieder sagt sie stattdessen einen Satz: "Mein Volk will Frieden." Oder: "Dieses Volk sehnt sich nach Frieden." Für große Teile der HDP mag das zutreffen. Doch seit die Gewalt die Bürger des Landes wieder in Kurden und Türken trennt, wird auch die HDP zunehmend zwischen den Fronten zerrieben. Sie muss den Spagat schaffen, einerseits glaubwürdig die kurdische Sache zu vertreten und andererseits nicht von der Gewalt der PKK vereinnahmt zu werden. Und tut sich damit nicht immer leicht. Zumindest Teile der HDP halten noch immer den Kontakt zur PKK aufrecht. Günter Seufert, Kurden-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, schreibt in einer Analyse sogar, dass zentrale Entscheidungen der HDP-Führung noch immer von der PKK-Führung bestimmt werden. Der inhaftierte PKK-Vorsitzende Öcalan soll zum Beispiel über die Kandidatur des jetzigen Vorsitzenden Demirtaş entschieden haben. Mit ihrer Gewalt liefert die PKK Erdoğan nun den perfekten Vorwand für eine neuerliche Eskalation des Konflikts: Seit Juli sollen die Rebellen über 100 türkische Sicherheitskräfte getötet haben, in mehreren Städten hat die PKK eine Selbstverwaltung ausgerufen. Kein türkischer Regierungschef kann derartige Übergriffe unbeantwortet lassen - das wissen auch die Kämpfer der PKK. "Es ist tragisch", sagt Laurent Mignon, "dass die PKK so bereit war, sofort wieder zu den Waffen zurückzukehren, als die AKP den Friedensprozess aufkündigte." Dennoch darf man die Gewalt
der PKK nicht einfach auf die HDP übertragen. Grünen-Chef Özdemir sieht
in Demirtaş "eine Stimme der Vernunft". Der HDP-Vorsitzende
habe sich bereits mehrmals glaubhaft von der Gewalt der PKK distanziert
und die PKK sogar zu einem einseitigen Waffenstillstand aufgefordert. Man könnte meinen, dass die Gewalt am Ende vor allem einem in die Hände spielt: Präsident Erdoğan. Doch bisher scheint seine Strategie nicht aufzugehen. Jüngsten Umfragen zufolge liegt die HDP unverändert bei 13 Prozent. Es ist schwer zu sagen, was passiert, wenn die Neuwahlen am Ende das gleiche Ergebnis liefern. Die AKP könnte versuchen, die HDP zu verbieten - und würde die Lösung des Konflikts damit vom Parlament wieder zurück in die Berge verlagern. "Auf demokratischem Wege wird die AKP die absolute Mehrheit nicht wiedererlangen", sagt Laurent Mignon, der Forscher aus Oxford. "In Kombination mit Erdoğans totalitären Tendenzen und der Situation in Städten wie Cizre könnte das am Ende tatsächlich zu einem Krieg führen." Grünen-Chef Özdemir ist weniger pessimistisch. "Wie man bei den Beerdigungszeremonien der Sicherheitskräfte sehen kann, fällt die Reaktion der türkischen Zivilbevölkerung anders aus, als Erdogan sich das vorgestellt hat." Immer wieder hatten Angehörige gefallener türkischer Soldaten auf Begräbnissen die Politik der Regierung kritisiert. Die Menschen ließen sich heute nicht mehr so leicht von militaristischer Rhetorik beeindrucken. Jüngste Meldungen scheinen ihm recht zu geben. Am Donnerstag marschierten Tausende in Ankara bei einem Marsch gegen den Terrorismus. "Ja zur Einheit, nein zum Terror", haben die Menschen gerufen, die einem Aufruf von rund 200 Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Berufsverbänden gefolgt sind. Sie wollen sich nicht länger von der Gewalt spalten lassen. Dennoch sieht es derzeit nicht danach aus, als würden sich Regierung und PKK in naher Zukunft auf einen Waffenstillstand einigen. Erst am Donnerstag hat ein PKK-Führer einem einseitigen Waffenstillstand eine Absage erteilt. Der erste Schritt müsste also von der Regierung ausgehen. Auch Deutschland könnte auf die türkische Regierung einwirken, sagt Grünen-Chef Özdemir. "Kuscheln hilft da nicht weiter. Es braucht jetzt deutliche Worte aus Berlin an Präsident Erdogan. Und auch in Richtung der PKK." Sollte Erdoğan für derartige Reden nicht empfänglich sein, gäbe es auch noch ein anderes Druckmittel: Den G20-Gipfel, der im November im türkischen Antalya stattfinden soll. Er könne sich schwer vorstellen, sagt Özdemir, dass die Regierungschefs der Welt in der Türkei "unter Palmen sitzen, Ayran trinken und Erdogan andachtsvoll zuhören, während im Land Politiker verfolgt und Journalisten weggesperrt werden." Der Gipfel könne ja schließlich auch woanders stattfinden. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/kurden-konflikt-in-der-tuerkei-buergerkrieg-im-brennglas-1.2653975
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