junge Welt, 19.09.2015 Gezielte Provokation Türkische Armee zerstört kurdische Guerilla-Friedhöfe – Eskalation einkalkuliert Von Nick Brauns Die türkische Armee hat mit der Zerstörung von Friedhöfen begonnen, auf denen gefallene Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK begraben liegen. Die mit PKK-Fahnen geschmückten und unter dem Schutz der Guerilla stehenden Friedhöfe wurden in den vergangenen Jahren in entlegenen ländlichen Gebieten, die als Hochburgen der Befreiungsbewegung gelten, errichtet. Der »Friedhof Märtyrer Ismail und Märtyrerin Ronahi« in der Region Varto sei bereits vollständig zerstört worden, meldete die Nachrichtenagentur Firat am Freitag unter Berufung auf örtliche Quellen. Die Gräber, eine Moschee und ein alevitisches Gebetshaus seien mit Panzern und schwerem Baugerät zerstört worden. Außerdem bombardiere die Armee das Gebiet vom Boden und aus der Luft. Soldaten haben laut Firat News damit begonnen, einen Friedhof in der Provinz Van zu zerstören. Dort befindet sich das Grab der deutschen Internationalistin Andrea Wolf, die 1998 als PKK-Kämpferin in Gefangenschaft der türkischen Armee geriet und ermordet wurde. Zu Wochenbeginn hatte die liberale Tageszeitung Taraf über eine vertrauliche Anweisung von Innenminister Sebahattin Öztürk zur Zerstörung von insgesamt 14 Guerillafriedhöfen berichtet. Eine Intervention gegen die Guerillafriedhöfe wäre ein »Wahnsinn«, der die Situation völlig außer Kontrolle geraten lasse, warnte Faysal Sariyildiz von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) unter Verweis auf die besondere Verehrung der kurdischen Bevölkerung gegenüber ihren Gefallenen. »Die dort Begrabenen sind die Kinder dieses Volkes«, erklärte Sariyildiz. Auch Niyazi Nefi Kara, Abgeordnete der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), beschuldigte die Regierung mit der angeordneten Friedhofszerstörung, die Spannungen in der Südosttürkei anzuheizen und neue Angriffe auf Sicherheitskräfte zu provozieren. Das Andenken an die »Märtyrer« nimmt bei der kurdischen Befreiungsbewegung eine zentrale, an einen religiösen Kult grenzende Rolle ein. Schändungen der Leichen gefallener Guerillakämpfer durch die Armee führten regelmäßig zu schweren Unruhen. Der Plan der Regierungspartei AKP besteht offenbar darin, nun die Zivilbevölkerung in den HDP-Hochburgen zu Massenprotesten auf die Straße zu treiben, um diese dann gewaltsam niederschlagen zu können. Die PKK, deren Führung in den vergangenen Tagen Signale für einen möglichen Waffenstillstand gegeben hatte, wird durch solche Operationen buchstäblich zu bewaffneten Vergeltungsaktionen gezwungen. Ansonsten würde sie sich in den Augen ihrer Anhänger als unglaubwürdig erweisen, wenn sie die Schändung der Gräber widerstandslos hinnimmt. Um bei den Parlamentswahlen am 1. November die HDP zu schwächen und wieder eine absolute Mehrheit für die AKP zu erlangen, scheint Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine Eskalation des Bürgerkrieges zu setzen.
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