Neue Zürcher Zeitung, 23.09.2015

http://www.nzz.ch/wirtschaft/fluechtlinge-staerken-den-tuerkischen-arbeitsmarkt-1.18618418

Europas Flüchtlingskrise

Flüchtlinge stärken den türkischen Arbeitsmarkt

Der Zustrom syrischer Kriegsflüchtlinge hat einschneidende Auswirkungen auf den türkischen Arbeitsmarkt. Die einheimischen Erwerbstätigen profitieren in mancher Hinsicht davon.

von Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

1,8 Mio. Schutzsuchende allein aus Syrien haben sich in der Türkei niedergelassen. Die grosse Mehrheit lebt nicht in Flüchtlingslagern, sondern schlägt sich in Grossstädten wie Istanbul sowie in den grenznahen Provinzen Hatay, Gaziantep und Sanliurfa durch. Nur etwa 100 000 Bürger des von einem Bürgerkrieg zerstörten Nachbarlandes besitzen eine reguläre Aufenthaltsbewilligung, die es ihnen erlaubt, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Laut Schätzungen werden Hunderttausende illegal beschäftigt.

Übertriebene Befürchtungen

Mit Tagesansätzen von 15 bis 20 Lir. (Fr. 4.80 bis Fr. 6.40) in der Landwirtschaft oder auf dem Bau erhalten die Syrer oft nur die Hälfte der ortsüblichen Branchenlöhne. Noch schlechter bezahlt werden Kinder, die für 35 Lir. eine Woche lang Schuhsohlen kleben, Gürtel und Taschen nähen oder auf dem Markt Babykleider verkaufen und mit ihrem Einkommen eine zentrale finanzielle Stütze des Familienhaushalts sind.

Wenig überraschend haben sich Klagen gehäuft, gemäss denen der Flüchtlingsstrom zu Lohndumping führe, von dem die Lokalbevölkerung betroffen sei. Zudem würden Einheimische zum Teil ganz vom Arbeitsmarkt verdrängt. Diese verbreiteten Befürchtungen entkräftet indes eine empirische Studie der Weltbank vom August 2015 . Zwar konstatieren die Autoren tatsächlich einen Verdrängungseffekt, den vor allem Frauen, Teilzeitbeschäftigte und Personen mit geringer Ausbildung spüren. Sie sind oft im informellen Sektor tätig und haben somit weder einen regulären Arbeitsvertrag noch eine soziale Absicherung. In der Türkei zählt nahezu jeder dritte Beschäftigte zum informellen Sektor. Der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte bewirkt etwa, dass einheimische Erntehelfer durch syrische Flüchtlinge substituiert wurden.

Gleichzeitig führte das zusätzliche Arbeitskräfteangebot dazu, dass mehr türkische Arbeitnehmer einen Job im formellen Sektor fanden, wo sie rechtlich besser abgesichert sind und höhere Löhne bezahlt werden. Die Weltbank-Autoren vermuten, dass die Wirtschaft wegen der Beschäftigung syrischer Flüchtlinge ihre Produktionskosten senken und in der Folge neue Stellen schaffen konnte.

Die Chancen für Syrer und andere Asylsuchende, auf dem regulären Arbeitsmarkt Unterschlupf zu finden, sind gering. Man werde den Migranten nicht generell eine Arbeitsbewilligung erteilen, stellte der Minister für Arbeit und Soziales, Faruk Celik, unlängst fest. Es wäre unfair, Türken die Jobs wegzunehmen und sie den Flüchtlingen zu geben, polemisierte der Minister. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Syrer meist Arbeiten verrichten, die Einheimische meiden. Auf jeden Fall hat der Migrationsstrom nicht zu einer Erhöhung der Arbeitslosenquote geführt: Diese verharrt auf hohen 10%.

Nur temporäres Bleiberecht

Rechtlich bewegen sich die syrischen Kriegsflüchtlinge auf unsicherem Boden. Sie erhalten lediglich ein temporäres Bleiberecht . Die Türkei unterzeichnete die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 mit einem geografischen Vorbehalt: Einzig Europäer haben demnach die Möglichkeit, in der Türkei als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Eine vor einem Jahr erlassene Direktive verbietet die Zwangsausschaffung von Syrern und postuliert den erleichterten Zugang auf den Arbeitsmarkt und in das Bildungswesen. Der türkische Arbeitgeberverband (Iskur) will sich dafür einsetzen, dass gut ausgebildete Flüchtlinge wie Ärzte und Ingenieure ihren Qualifikationen entsprechende Stellen finden. Diese und andere Initiativen dürften indes von der türkischen Bürokratie auf eine harte Probe gestellt werden.

Die Regierung in Ankara nennt die syrischen Flüchtlinge euphemistisch «Gäste». Wie lange sie bleiben dürfen, entscheiden offenkundig die Gastgeber. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan propagiert die Schaffung einer sogenannten Sicherheitszone auf syrischem Boden, wo die Flüchtlinge untergebracht werden könnten. Wenig erstaunlich, dass vor dem Hintergrund dieser ungewissen Zukunftsperspektiven viele lieber nach Mitteleuropa ziehen.