junge Welt, 24.09.2015

http://www.jungewelt.de/2015/09-24/011.php

»Höllische Lage«

Prokurdische Minister verlassen die türkische Übergangsregierung

Von Nick Brauns

Nach nur 26 Tagen endete die erste Regierungsbeteiligung einer prokurdischen Partei in der Geschichte der Türkei. Am Dienstag reichten Europaminister Ali Haydar Konca und Entwicklungsminister Müslim Dogan von der linken Demokratische Partei der Völker (HDP) bei Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Ankara ihren Rücktritt aus dem Übergangskabinett ein. Die beiden HDP-Politiker begründeten diesen Schritt damit, nicht in die Entscheidungsmechanismen der von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und dieser nahestehenden parteilosen Ministern dominierten Übergangsregierung eingebunden worden zu sein. Seit dem Verlust der absoluten Mehrheit der AKP bei den Wahlen vom 7. Juni habe der »Palast« – ein Synonym für Präsident Recep Tayyip Erdogan – ein »Kriegs- und Putschkonzept« umgesetzt, erklärte Konca. Die Folge sei eine »höllische Lage« insbesondere in kurdischen Städten. Über mehrere von ihnen waren in den vergangenen Wochen Ausgangssperren verhängt worden. Armee und Polizei bombardierten dort Wohnviertel mit schweren Waffen, während Scharfschützen jeden unter Beschuss nahmen, der seine Wohnung verließ. Allein während der neuntätigen Belagerung der Stadt Cizre waren dort nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 23 Zivilisten ums Leben gekommen. Selbst den beiden HDP-Ministern war das Betreten der abgeriegelten Stadt verweigert worden. »Wir werden den einen, dem wir am 7. Juni nicht erlaubt haben, Präsident zu werden, auch am 1. November nicht zum Präsidenten machen«, versicherte Konca. Die HDP werde bei den kommenden Wahlen durch ihren erneuten Einzug ins Parlament verhindern, dass die AKP die von Erdogan zur Einführung einer Präsidialdiktatur angestrebte verfassungsändernde Mehrheit von 400 der 550 Mandate erlangen könne.

Die Übergangsregierung war nach dem endgültigen Scheitern von Koalitionsverhandlungen Ende August gebildet worden, um die Neuwahlen am 1. November vorzubereiten. Obwohl nach türkischem Recht alle im Parlament vertretenen Parteien daran beteiligt werden sollten, hatten die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) einen Regierungseintritt zurückgewiesen. Die HDP erklärte dagegen, mit einem Beitritt zur Übergangsregierung ihrer Verantwortung nachzukommen, um zu verhindern, dass die AKP staatliche Ressourcen für den eigenen Wahlkampf monopolisiert. Der MHP-Abgeordnete Tugrul Türkes – ein Sohn des verstorbenen legendären Führers der Grauen Wölfe, Alparslan Türkes – war gegen den Willen seiner Partei als Vizeministerpräsident in die Regierung eingetreten. Jetzt kandidiert Türkes, gegen den in der MHP ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet worden war, für die AKP. Die setzt darauf, durch den prominenten Namen Türkes einen Teil des faschistischen Spektrums an sich zu binden.

Während die in der vergangenen Woche eingereichten Kandidatenlisten von CHP, MHP und HDP weitgehend mit der Aufstellung für die Juniwahlen übereinstimmen, wurden auf Intervention von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nur 312 von 550 AKP-Kandidaten erneut nominiert. Neu aufgestellt wurden ein Schwiegersohn Erdogans und ein ehemaliger Generalsekretär der islamistischen Gemeinde Milli Görüs in Deutschland.

Nicht mehr auf der Kandidatenliste der HDP steht der prominente türkische Sozialist und frühere Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP) Levent Tüzel. Gegenüber der Zeitung Hürriyet vermutete Tüzel, der dem Parlament bereits zwei Legislaturperioden angehört hatte, dass er aufgrund seiner Weigerung, der Übergangsregierung beizutreten, nicht mehr aufgestellt worden sei. Dennoch werde die EMEP die HDP weiter unterstützen, damit keine »Einparteien- und Ein-Mann-Diktatur« zustande komme, erklärte Tüzel unter Verweis auf die Pläne von Präsident Erdogan. Anstelle von Tüzel kandidiert mit Mustafa Sarisülük ein Bruder des während der Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013 von der Polizei erschossenen, aus einer alevitischen Familie stammenden Sozialisten Ethem Sarisülük.

Unterdessen beschloss der Wahlvorstand für den Bezirk Cizre, aus Gründen der »Wahlsicherheit« keine Wahllokale in drei Stadtvierteln und rund zwei Dutzend umliegenden Dörfern einzurichten. Rund 50.000 der 66.000 Wähler des Bezirks sollen in Nachbargemeinden zur Wahl gehen. Der HDP-Abgeordnete Ayhan Bilgen sieht darin den Versuch, die Wahlen in der HDP-Hochburg Cizre, in der die Partei im Juni auf rund 90 Prozent der Stimmen kam, zu verunmöglichen.