Tages-Anzeiger, 25.09.2015

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Eingesperrt in Syrien

Die kurdische Autonomieregierung in Syrien verbietet Kurden die Flucht. Sie braucht sie im Kampf gegen den IS und gegen die Arabisierung der Gebiete.

Ein Checkpoint der Volksverteidigungseinheiten nahe der kurdischen Stadt Afrin im Nordwesten Syriens. Foto: Reuters

Syrien entleert sich, jeder, der kann, verlässt das Land. Mehr als die Hälfte der insgesamt 20 Millionen Syrer sind auf der Flucht, 4 Millionen davon haben das Land bereits verlassen. Die gefähr­liche Reise unternähmen meistens Männer, um später ihre Familien nach­zuziehen, schreibt die oppositionelle syri­sche Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London. Aber viele seien auch jung und alleinstehend, auf der Flucht vor dem Krieg, in dem sie sonst kämpfen müssten. Ihnen versperrt im Norden Syriens aber die kurdische Autonomieregierung den Weg. Die vorwiegend von Kurden bewohnten Gebiete werden seit Ende 2012 in drei Kantonen von der Partei der Demokratischen Union (PYD) verwaltet. Die PYD ist die syrische Schwesterpartei der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK).

Häuser verkaufen ist verboten

Bereits seit gut einem Jahr ist die Ausreise aus dem grössten Kanton Cizre für junge erwachsene Kurden verboten, heisst es bei Kurdwatch, einem Internetportal, das über Menschenrechtsverletzungen gegenüber der kurdischen Bevölkerung in Syrien berichtet. In Afrin hat sich die Praxis in letzter Zeit noch verschärft. Kaum jemand kann das Gebiet noch verlassen. Die PYD hat ihre Sicher­heits­kräfte angewiesen, Personen zwischen 18 und 30 Jahren keine Aus­reise­genehmigung zu erteilen. Sie will verhindern, dass Männer und Frauen im wehrpflichtigen Alter das Land ver­lassen. Der bewaffnete Arm der PYD, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), kämpfen seit Jahren gegen den IS und haben zu wenig Zulauf von Freiwilligen. Deshalb kommt es immer wieder auch zu Zwangsrekrutierungen. Kurdwatch hat in einem Bericht viele solche Fälle dokumentiert, seit im Juli 2014 ein Gesetz über die «Pflicht zur Selbstvertei­digung» erlassen worden war. Auch Minder­jährige werden von dieser Praxis nicht verschont. Das hat die Schweize­rische Flüchtlingshilfe in ihrer Länderanalyse zu Syrien ebenfalls festgehalten.

Kurdwatch weist zudem auf eine weitere Problematik hin, da es sich bei den Volksverteidigungseinheiten YPG nicht um eine staatliche Armee handle. «Die YPG unterstehen direkt dem Befehl der PKK.» Die Führung der regierenden PYD, ebenso wie diejenige der Miliz PYD bestehe aus Kadern und Kommandanten der PKK. Ashti Amir, ein syrischer Kurde aus Aleppo, der seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz lebt und im kurdischen Afrin im Nordwesten Syriens Verwandte hat, sagt: «Die Kurden möchten ihr Gebiet gern verteidigen, aber nicht unter der Flagge der PYD.» Denn in der Bevölkerung seien längst nicht alle für Öcalan und die PKK.

Aus Afrin berichtete die Journalistin Jenan Moussa vom arabischen Sender al- Aan vor kurzem: Nur noch in Ausnahme­fällen erhielten Kurden eine Sonder­erlaubnis, das Gebiet zu verlassen. Und wer diese nicht habe, werde an den Kontrollpunkten der Sicherheitskräfte zurück­geschickt. Der Kanton Afrin ist seit langem isoliert. Im Süden riegeln der IS und die Al-Nusra-Front das Gebiet ab, im Westen und im Norden liegt die ­immer schärfer bewachte türkische Grenze. Die Wege zur Ausreise aus der Enklave sind beschränkt und können von der PYD gut kontrolliert werden.

«Türkei macht Grenzen dicht»

Es geht aber nicht nur darum, junge Leute von der Flucht vor der Rekrutierung abzuhalten. Über Twitter berichtet Moussa über weitere Hindernisse für die Einwohner. «Kurden in Afrin dürfen ihre Häuser nicht mehr verkaufen.» Denn die Behörden befürchteten, dass eine weitere Abwanderung die Demografie im Gebiet verändere. Bereits hätten Zehntausende aus Angst vor dem IS oder ­wegen fehlender Perspektiven Afrin verlassen. Die Einheimischen sind meist kurdische Syrer, aus dem Süden des Landes sind aber in den letzten Jahren Hunderttausende arabische Syrer gekommen. Vor allem aus Aleppo, aber auch aus weiter entfernten Städten suchen die Menschen im bisher vom Krieg verschonten Afrin Zuflucht. Mit dem Verbot, Häuser zu verkaufen, wolle die PYD eine Arabisierung verhindern. Die arabischen Syrer sollen keine Häuser kaufen, um dort zu bleiben.

Auch die Eltern von Amir wollten das Land verlassen und ihr Haus zwei an­deren Familien überlassen. «Aber man darf nicht einmal Mietverträge ab­schliessen», sagt Amir. Obwohl seine ­Eltern aufgrund ihres Alters nicht vom Ausreiseverbot betroffen sind, konnten sie Afrin nicht verlassen. Ein Termin, um auf der Botschaft in der Türkei ein Visum für die Schweiz zu beantragen, konnten sie nicht wahrnehmen, weil die Grenzübergänge in die Türkei geschlossen sind. «Die Türkei macht die Grenzen dicht, weil auf syrischer Seite die PYD regiert», sagt Amir.