zeit.de, 25.09.2015

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"Die Meinungsfreiheit ist am Ende"

Die türkische Journalistin Mehveş Evin wurde wie andere entlassen, weil sie der Regierung unbequem war. Sie beschreibt, wie die Medien unter Erdoğan drangsaliert werden.

Eine Kolumne von Mehveş Evin

Laut Reporter ohne Grenzen rangiert die Pressefreiheit in der Türkei auf Platz 149 von 180, zwischen Mexiko und der Demokratischen Republik Kongo. Mehveş Evin, 45 Jahre alt, preisgekrönte Autorin und Redakteurin, gehört zu einer Gruppe von Journalisten, die in letzter Zeit von heute auf morgen entlassen wurden. Diese jüngste Entlassungswelle traf die Zeitung Milliyet, es gab sie allerdings auch schon bei anderen Zeitungen.

Diese Woche stellen wir den Kolumnenplatz "Istanbul’dan" der Kollegin Evin zur Verfügung.

Nun kann ich mich auch zu den Journalisten in der Türkei zählen, die gefeuert wurden. Ich wusste sehr genau, dass dieser Tag früher oder später kommen würde. Seit den Gezi-Protesten 2013 hat die konservative AKP-Regierung den Druck nicht nur auf die Zeitung Milliyet erhöht, bei der ich eine Kolumne hatte, sondern auf alle Medienhäuser. Ich wusste, dass ich – wie viele meiner Kollegen auch – am Ende entlassen werden würde, weil ich über kritische Themen wie Menschen- und Frauenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit, die Kurdenfrage und die Umweltverschmutzung schreibe.

Nach den Parlamentswahlen am 7. Juni ist die Gewalt im Südosten des Landes eskaliert. Seitdem gibt es Zweifel, ob die Nachrichten, die uns von dort erreichen, richtig sind und ob sie vollständig zu uns durchdringen. Nachdem ich im August einige kritische Posts gegen den Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan retweeted habe, beschwerte sich ein Kolumnist des AKP-Propagandablatts Yeni Akit beim Besitzer der Milliyet über mich und andere "gefährliche" Kollegen und meinte, wir müssten davongejagt werden. Dann war ich auf Einladung von Journalisten-Berufsverbänden mit einer Gruppe von Kollegen in Diyarbakır und Şırnak. Wir wollten uns ein Bild von der Lage in den Kurdengebieten machen. Meine Zeitung konnte meinen Bericht nicht drucken, deshalb erschien er auf der unabhängigen Nachrichtenseite diken.com.tr. Daraufhin intensivierten als "AKP-Trolle" bekannte Twitter-User ihre Attacken und Drohungen gegen mich. Als ich am 28. August entlassen wurde, schrieben die AKP-nahen Zeitungen Yeni Şafak und Yeni Akit auf ihren Internetseiten: "Die Autorin mit Sympathien für die PKK wurde gefeuert."

In einem Land, in dem jede Gegenstimme unterdrückt wird und die Meinungsfreiheit am Ende ist; in dem Journalisten und Medienhäuser manchmal von Präsident Erdoğan persönlich zur Zielscheibe gemacht werden; in dem der Verfassungsartikel "Beleidigung des Staatspräsidenten" angewendet wird, um jeden, vom Journalisten bis zum Verwandten eines getöteten Soldaten, der seinem Schmerz und seiner Kritik an der Regierungspolitik Luft macht, zu bestrafen – in diesem meinem Land hätte ich nicht in den Himmel schauen und fröhlich vor mich hin pfeifen können. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und nach meinen Überzeugungen Zeitung geschrieben und veröffentlicht, und das bereue ich nicht. Mir tun eher jene leid, die nicht Journalismus, sondern Regierungspropaganda betreiben.

Doch das Traurige ist nicht allein der Zustand, den die Medien unter der Macht von Tayyip Erdoğan erreicht haben, sondern der Zustand des ganzen Landes. Am Tag, als uns die Nachricht erreichte, dass die PKK in Dağlıca Dutzende Soldaten getötet hat, veröffentlichte die Hürriyet auf ihrer Internetseite das, was Staatspräsident Tayyip Erdoğan zuvor in einem Interview gesagt hatte: Das alles wäre nicht passiert, wenn es "400 Abgeordnete" gegeben hätte (gemeint ist die absolute Mehrheit für die AKP, Anm. der Redaktion). In der Nacht versammelte sich unter der Führung eines AKP-Abgeordneten eine Gruppe von etwa Hundert Demonstranten vor dem Gebäude der Hürriyet-Redaktion und schrie Drohungen wie "Wir werden das hier niederbrennen". Zwei Nächte später wurde die Redaktion wieder angegriffen, Fenster gingen zu Bruch, die Angreifer konnten nur mit Mühe aus dem Gebäude gedrängt werden. Aber weder der Staatspräsident noch der Premierminister haben die Ausschreitungen zunächst verurteilt. Erst nach der zweiten Nacht sagte Ministerpräsident Davutoğlu, dass Angriffe auf die Presse "nicht richtig" seien.

Es gibt eine Menge Gründe dafür, weshalb türkische Medien und Journalisten unter einem so starken Druck stehen, auch wirtschaftliche. Der entscheidende Grund jedoch ist, dass die AKP und ihre Medien diese Art von Angriffen unterstützen. Jeder, der Erdoğan und seine Führung kritisiert, wird als "Agent", "Terrorist" oder als "Provokateur" zur Zielscheibe erklärt. Und nicht selten festgenommen und vor Gericht gestellt. Und da das türkische Justizsystem gerade ebenfalls schwer verwundet ist, wird die Pressefreiheit nicht so in Schutz genommen, wie sie eigentlich müsste.

Die Medien haben zu lange geschwiegen

Ja, die Medien haben angesichts des steigenden Drucks von Erdoğan und seiner Partei zu lange geschwiegen. Der Hauptgrund aber dafür, dass eine "Säuberung" der Medien so einfach über die Bühne gehen konnte, ist die unselige Beziehung zwischen dem Kapital und den Medien, die während der AKP-Regierung völlig ausgeartet ist. In den vergangenen zehn Jahren wurden bei Verkäufen oder Übernahmen von Medienunternehmen solche Konzernbesitzer bevorzugt, die der Regierung nahestanden oder gar direkte Verwandte von Erdoğan waren. Um im Wettrennen um staatliche Ausschreibungen oder sonstige Interessen nicht ins Hintertreffen zu geraten, oder weil man dem Druck nicht standhalten konnte, haben einige Medien sich angepasst und ihre Identität geändert.

Während so allmählich die Pluralität verschwand, wurden viele bestraft, die sich im Rahmen journalistischer Prinzipien gegen diese Entwicklung auflehnten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Erdoğan nach der Parlamentswahl, bei der er die absolute Mehrheit für ein Präsidialsystem verfehlt hatte, ein Großaufräumen bei den Medien starten würde.

Dieser Großeinsatz wird zügig weitergehen, mit Entlassungen, mit der Brandmarkung von Journalisten oder mit fragwürdigen Finanzkontrollen in Medienhäusern wie kürzlich bei der Ipek-Holding (einem Unternehmen, das der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen nahesteht, einst politischer Weggefährte von Staatspräsident Erdoğan und der AKP, jetzt einer der größten Feinde, Anm. der Redaktion). Vom Kolumnisten bis zum Reporter, vom Chefredakteur bis zum Seitenverantwortlichen – die "Spaltpilze" sollen beseitigt werden.

Ich habe in meinen 23 Jahren als Journalistin schon mehrmals meinen Job verloren, mal wegen Wirtschaftskrisen, wegen des Wechsels an der Spitze des Mediums oder Ähnlichem. Aber ich habe immer einen neuen Job gefunden. Heute haben gefeuerte Journalisten keine Chance, woanders eine Stelle zu finden, bis auf eine Handvoll Oppositionsmedien oder digitale Kanäle. Zumal die AKP-Regierung den Zugang zu etwa Hundert Nachrichtenseiten eingeschränkt hat, darunter sind auch völlig unpolitische. In dieser Atmosphäre der Angst und des Drucks will fast niemand mehr Journalisten einstellen. Wenn ich mich von nun an nicht mehr vom Journalismus ernähren kann, werde ich meine Wohnung, meinen einzigen Besitz, vermieten. Aber zu wissen, dass sehr viele junge, großartige Kollegen keinen Journalismus mehr werden machen können, schmerzt mich sehr.

Trotz aller Schwierigkeiten möchte ich daran glauben, dass wir diese Tage hinter uns bringen werden, solange doch noch einige rechtschaffene Journalisten ihre Arbeit machen. Auch wenn die Degeneration der Medien, ihr Gehorsam gegenüber der herrschenden Politik und die Ablehnung und das Misstrauen der Menschen den Medien gegenüber nicht so leicht überwunden werden können. Wahrer Journalismus funktioniert nur in unabhängigen Kanälen. Das ist schwer, wenn man Geld verdienen und möglichst viele Leute erreichen will. Aber es ist nicht unmöglich.