Neue Zürcher Zeitung, 25.09.2015

http://www.nzz.ch/meinung/die-tuerkei-entgleitet-europa-1.18619327

Brüssel und Ankara im Clinch

Die Türkei entgleitet Europa

Der Einfluss der Europäischen Union auf die Türkei schwindet. Das schadet sowohl Brüssel als auch Ankara. Höchste Zeit, eine durch Misstrauen vergiftete Beziehung neu zu beleben.

Kommentar von Thomas Fuster

«Wenn eine Identitätskrise seit rund 200 Jahren anhält, ist dies nicht länger eine Krise, sondern eine Identität.» Der türkische Historiker Selim Deringil umschreibt die Zerrissenheit seines Heimatlandes durchaus treffend. So lässt sich die Geschichte der auf zwei Kontinenten ruhenden Türkei am ehesten begreifen als ständiges Ringen zweier Kräfte: Die eine orientiert sich an einem westlich-säkularen Ideal, die andere an einer orientalisch-islamischen Tradition. Zwar gab Atatürk 1923 bei der Republiksgründung die Richtung klar vor: Für ihn stand der Orient stets als Synonym für Rückständigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit, weshalb er der jungen Nation einen stramm an westeuropäischen Werten geeichten Modernisierungskurs verordnete. Spätestens seit dem Aufstieg von Recep Tayyip Erdogan konkurriert diese kemalistische Doktrin aber wieder mit einem neoosmanischen Selbstverständnis, das sich an islamischer Religiosität, den arabischen Nachbarstaaten und an früheren Einflusssphären des Osmanischen Reichs ausrichtet.

Gestörtes Verhältnis

Mit dieser Neuorientierung und Erdogans autoritären Reflexen geht ein sukzessives Abdriften der Türkei von der EU einher. Dabei wären die zwei Akteure derzeit dringender denn je aufeinander angewiesen. Sei es der Zustrom von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum, das kriminelle Netzwerk internationaler Schlepperbanden, die Rücknahme abgewiesener Asylbewerber, der seit vier Jahren anhaltende Bürgerkrieg in Syrien oder die Grenzübertritte von Kämpfern der Terrormiliz IS: Ohne die Einbindung der Türkei, die eine rund 900 Kilometer lange Grenze mit Syrien teilt, knapp zwei Millionen Syrer im Land aufgenommen und für deren Versorgung laut eigenen Angaben schon gegen 7,6 Milliarden Dollar ausgegeben hat, sind diese Probleme nicht in den Griff zu bekommen. Die deutsche Regierung hat daher vor Wochenfrist beim Besuch von Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in Ankara eine intensivere Kooperation angekündigt. Der deutsche Gast sparte bei dieser Gelegenheit nicht mit lobenden Worten zur «grossen gestalterischen Kraft» der Türkei.

So richtig wohl ist es bei solchen Treffen aber keiner Seite. Das Verhältnis ist gestört. Die Türkei gilt in Brüssel als Problemfall. Vorbei sind die Zeiten, als das Land den unzufriedenen Massen in Nordafrika als Erfolgsmodell für eine fruchtbare Symbiose von Islam, Demokratie und Marktwirtschaft empfohlen wurde. Seit sich Erdogan wie ein Sultan aufführt, im Land keinen Widerspruch duldet, die Justiz zu seinen Zwecken instrumentalisiert, kritische Journalisten ins Gefängnis steckt und die Gewaltenteilung mit Füssen tritt, strahlt das türkische Modell kaum noch Glanz aus. Kommt hinzu, dass der Staatspräsident, der faktisch auch als Regierungschef amtiert, ein eigenartiges Demokratieverständnis an den Tag legt. Weil das Wahlvolk im Juni seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eine absolute Mehrheit verweigerte, der Alleinherrscher von einer Machtteilung mit Koalitionspartnern aber nichts wissen will, lässt er im November erneut wählen – damit das Volk, so die bizarre Vorstellung, den angeblichen Fehler korrigieren kann.

Es ist eine paradoxe Situation: Eigentlich zielen Beitrittsgespräche darauf ab, die Kandidatenländer näher zur EU zu bringen. In Bezug auf die Türkei ist aber das Gegenteil der Fall. Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen vor ziemlich genau zehn Jahren, im Oktober 2005, scheinen beide Seiten ihr Interesse an einer Integration verloren zu haben. Zwar hat bisher jedes Land, das den Beitrittsprozess startete, diesen erfolgreich beendet. Ob das aber auch für das epische Ringen zwischen Ankara und Brüssel gelten wird, bleibt offen. So erfüllt die Türkei derzeit weniger EU-Standards als 2005. Das Land entwickelt sich aus Brüsseler Sicht rückwärts – politisch, wirtschaftlich und institutionell. Das Szenario einer EU-Mitgliedschaft ist unwahrscheinlicher denn je. Nach über einem halben Jahrhundert des Buhlens – 1959 bewarb sich das Land um die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1999 erhielt man den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten – ist die Luft raus. Der Beitrittsprozess ruht in komatösem Tiefschlaf.

Müdes Brüssel

Die regierende AKP, von Erdogan wie ein Marionettentheater an kurzen Fäden geführt, hat jeglichen Reformeifer verloren. Die EU-Integration wird zusehends als Belastung und nicht als Chance begriffen. Die mit den Verhandlungen verbundenen Fortschrittsberichte aus Brüssel sind eine ständig wiederkehrende – und entsprechend lästige – Erinnerung an die eigenen demokratischen Defizite. Doch nicht nur das türkische Unvermögen, «europäische Standards» zu erfüllen, blockiert die Annäherung. Das europäische Einigungswerk hat im Zuge der Euro-Krise auch viel an Attraktivität eingebüsst. Als Erdogan auf dem Höhepunkt dieser Krise seine Vision für das Jahr 2023 – in dem die türkische Republik ihren hundertsten Geburtstag feiern wird – vorstellte, verwies er zwar auf allerlei ambitiöse Wirtschaftsziele, etwa den Aufstieg des Landes in den Klub der zehn grössten Volkswirtschaften. Das Ziel einer EU-Mitgliedschaft, in der türkischen Öffentlichkeit bestenfalls noch ein Randthema, wurde aber mit keinem Wort erwähnt.

Der EU-Spitze dürfte die Entzauberung durchaus recht sein. Bei der gegenwärtigen Absorption durch allerlei Baustellen nicht nur in Griechenland geniesst die Idee, die Union durch ein mehrheitlich muslimisches Land zu erweitern, tiefe Priorität in der Politik – und noch viel geringere Popularität in der Bevölkerung. Zwar tut man weiterhin so, als würde man ernsthaft mit der Türkei über eine Mitgliedschaft verhandeln. Geschuldet ist diese Maskerade aber allein politischer Höflichkeit. Daran glauben mag niemand, es herrscht Erweiterungsmüdigkeit. Da ist es durchaus bequem, dass der seit über vier Jahrzehnten ungelöste Zypernkonflikt ein Öffnen diverser Verhandlungskapitel sowieso verunmöglicht. Dass der Uno-Friedensplan einst vom türkischen Nordteil der Insel bejaht, von den griechischen Zyprioten aber abgelehnt wurde und die EU ihrem Versprechen nie nachkam, das Handelsembargo gegenüber den Türkischzyprioten aufzuheben, ändert daran wenig. Was politisch opportun ist, muss ja nicht zwingend auch kohärent sein.

Die Entfremdung ist gegenseitiger Natur, die Auswirkung für die Türkei aber besonders schwerwiegend. Dem Land ist der äussere Druck abhandengekommen, um die Modernisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Dass Erdogan zu einer solchen Erneuerung durchaus fähig wäre, hat er zu Beginn der AKP-Herrschaft bewiesen. Angetrieben durch das damals noch glaubwürdige Ziel eines EU-Beitritts, verschrieb er dem Land zwischen 2002 und 2005 eine tiefgreifende Liberalisierung: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, das Militär unter zivile Kontrolle gestellt, die kulturelle Identität der Kurden gestärkt und die Meinungsfreiheit gefestigt. Dafür erhielt er mit gutem Grund internationales Lob. Derzeit vermag die EU – einst von Erdogan als wichtigstes Modernisierungsprojekt der Türkei seit Ausrufung der Republik tituliert – aber keinen konstruktiven Einfluss mehr auszuüben. Das ebnet Erdogan den Weg, seine Machtfülle in putinscher Manier auszubauen, die Gegner einzuschüchtern und den Kurdenkonflikt politisch zu instrumentalisieren.

Wirtschaftliche Alarmzeichen

Zu leiden unter dieser Fehlentwicklung hat auch die türkische Wirtschaft. Angesichts der hochdefizitären Leistungsbilanz, der tiefen Sparquote und der hohen Abhängigkeit von kurzfristigem Kapital aus dem Ausland präsentiert sich das rohstoffarme Land ohnehin in verletzlicher Verfassung. Diese Fragilität – akzentuiert durch eine anstehende Zinserhöhung in den USA und eine stark an Wert verlierende Heimwährung – teilt die Türkei zwar mit vielen Schwellenländern. Wenn nun aber auch die Rechtssicherheit infolge einer erratischen Staatsführung immer stärker ausgehöhlt wird, während die EU-Integration nicht länger als ein Anker zu stabilisieren und zu beruhigen vermag, wird die Aufgabe immer schwieriger, Kapital ins Land zu locken. Als Alarmzeichen muss gelten, dass in jüngerer Vergangenheit verschiedene ausländische Konzerne ihren Rückzug aus dem Land angekündigt haben; zu ihnen gehören etwa die britische Supermarktkette Tesco, die britische Bank HSBC oder der französische Energiekonzern Total.

Der sich vertiefende Graben geht auch für Brüssel mit Kosten einher. Der EU fehlt es an der südöstlichen Flanke Europas, an geostrategisch exponierter Lage und in einem 78 Millionen Menschen zählenden Markt, an einem verlässlichen Partner. Die Unkalkulierbarkeit ist teilweise selbstverschuldet. Es reicht eben nicht aus, nur während akuter Krisen, wie dieser Tage, sich die Rolle der Türkei als Brücke zwischen dem Westen und der islamischen Welt in Erinnerung zu rufen und verwundert festzustellen, dass der Südosten Anatoliens und seine Nachbarregionen auch Auswirkungen auf die eigene Sicherheit haben. Die Interessenwahrung in einer der krisenanfälligsten Regionen bedarf eines langfristigen und institutionellen Unterbaus. Diese Stütze wird zwar auf absehbare Zeit und aus Gründen der Realpolitik weiterhin nicht eine EU-Mitgliedschaft sein. Doch es gibt auch losere Formen der Integration, mit denen die Kooperation in beidseitigem Interesse gefestigt werden kann.

Statt sich mit geringer Erfolgsaussicht auf ein politisches Minenfeld zu begeben, könnte man die ökonomischen Bande enger flechten. Ein Start in diese Richtung wäre die zügige Aufwertung der 1995 zwischen der EU und der Türkei vereinbarten Zollunion, etwa durch eine Erweiterung der erfassten Sektoren auf Dienstleistungen. Weil die Türkei derzeit ihren Markt für jedes Drittland, mit dem die EU ein Freihandelsabkommen schliesst, öffnen muss, ohne im Gegenzug auch Marktzugang zu diesem Drittland zu erhalten, wäre zudem auch eine Teilnahme der Türkei am transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der EU und den USA ein positives Signal. Weitere Möglichkeiten zum Brückenschlag gibt es viele. Wichtig ist, einer eingeschlafenen Beziehung wieder Leben einzuhauchen und verlorengegangenes Vertrauen zurückzuerobern. Von der derzeitigen Paralyse und Ohnmacht profitieren nämlich nur die Unruhestifter in Nahost – leisten kann sich das weder Ankara noch Brüssel.