Neues Deutschland, 26.09.2015

http://www.neues-deutschland.de/artikel/985854.in-der-tuerkei-herrscht-krieg.html

»In der Türkei herrscht Krieg«

Interview mit Murat Timur, Vorsitzender der türkischen Anwaltskammer in der Stadt Van

Unter den Folgen des Krieges in der Türkei leiden insbesondere Zivilisten. Was können Anwälte für sie in solchen Zeiten noch ausrichten? Mit Murat Timur, Vorsitzender der Anwaltskammer in Van, Hauptstadt der gleichnamigen türkischen Provinz, sprach für »nd« Ismail Küpeli.

In Deutschland hört man nur noch wenig vom Krieg in der Türkei. Hat sich die Lage wieder beruhigt?
Nein, davon kann überhaupt nicht gesprochen werden. Ganz im Gegenteil. Die Lage hat sich eher verschlimmert. Inzwischen hat sich der Krieg auch auf die Städte ausgeweitet, wie etwa Cizre. Dort verursachen die Kämpfe besonders viel Leid unter der Zivilbevölkerung, weil die türkischen Sicherheitskräfte völlig unangemessen und ohne Rücksicht auf »Kollateralschäden« vorgehen. Wenn die Menschen nicht einmal ihre Toten begraben können, weil sie Angst vor Scharfschützen haben müssen, dann läuft etwas gewaltig schief.

Sie sprachen von der Situation in Cizre, wo es eine achttägige Ausgangssperre und mehrere zivile Todesopfer gab.
Zuallererst wäre es gut, wenn wir damit aufhören würden, hier von »Situationen« oder »Spannungen« zu sprechen, wie es europäische und türkische Medien tun. Solche Vokabeln verharmlosen die Lage in der Türkei. Es ist ein Krieg, der dort herrscht.

Und ja, ich spreche von den Menschenrechtsverletzungen und möglichen Kriegsverbrechen in Cizre und anderen Städten in den kurdischen Gebieten der Türkei. In Cizre wurden laut Recherchen von Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen mindestens 15 Zivilisten durch die türkischen Sicherheitskräfte getötet, weitere fünf Zivilisten starben, weil sie wegen der Ausgangssperre nicht medizinisch versorgt werden konnten. Eben deshalb konnten sie auch nicht bestattet werden, so dass die Angehörigen in ihren Häusern mit den Toten ausharren mussten.

Wenn es sichere Angaben über zivile Opfer gibt, wie Sie sagen, dann müsste es doch möglich sein, solche Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Unternimmt die Türkei genug, um solche Verbrechen zu bestrafen und in Zukunft auszuschließen?
»Nicht genug« wäre eine Beschönigung. Es gibt konkret im Fall von Cizre keine einzige Anklage wegen möglicher Kriegsverbrechen. Sie müssen sich auch folgendes klarmachen: Während der Ausgangssperre in Cizre konnten keine unabhängigen Beobachter in die Stadt kommen, weder Menschenrechtsaktivisten noch Anwälte.

Selbst Minister der prokurdischen Partei HDP und deren Kovorsitzender Selahattin Demirtas wurden durch die türkischen Sicherheitskräfte davon abgehalten, sich vor Ort ein Bild zu machen. Das, was über die zivilen Opfer bekannt ist, wurde gegen den Willen der türkischen Regierung recherchiert.

Und Cizre ist leider kein Einzelfall. Es gibt weitere Ausgangssperren und militärische Sperrbezirke, in denen gekämpft wird und wo es nicht möglich ist, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.

Was ist das für ein Gefühl für einen Anwalt, wenn wenn es kaum möglich scheint, gegen Rechtsverletzungen vorgehen zu können?
Die faktische Straflosigkeit von staatlichen Menschenrechtsverletzungen ist ein großes Problem. Allerdings erleben wir dies als Anwälte nicht erst seit gestern. Insbesondere wenn es um die kurdischen Gebiete geht, ist es seit Jahrzehnten so, dass staatliche Verbrechen an Zivilisten ungestraft bleiben. Aber uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter auf demokratischen und rechtstaatlichen Wegen für unsere Rechte zu streiten - zur Not eben auch gegen die türkische Regierung, wenn sie sich dagegen stellt.

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Wir als Anwälte dokumentieren gemeinsam mit Menschenrechtsvereinigungen die Rechtsverletzungen und schaffen Öffentlichkeit dafür, dass hier Zivilisten zu Schaden kommen. Ich denke, dass dies in manchen Fällen dazu führt, dass Schlimmeres verhindert wird.

Derzeit konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Neuwahlen am 1. November, bei denen Manipulationen befürchtet werden. Was müsste geschehen, um freie und faire Parlamentswahlen zu sichern?
Zuerst müssen wir feststellen, dass wir uns nicht auf die AKP-Regierung verlassen sollten, wenn wir wirklich freie und faire Wahlen am 1. November haben wollen. Die Zivilgesellschaft in der gesamten Türkei muss leider selbst dafür sorgen, dass Wahlfälschungen verhindert werden. Wir als Anwaltskammer Van werden Wahlbeobachter stellen und wünschen uns, dass internationale Wahlbeobachter zahlreich am Wahltag in der Türkei anwesend sind.