FAZ, 28.09.2015

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Flüchtlingskrise

Die Türkei ist Teil des Problems

Selbst wenn die Türkei bereit wäre, ihre Grenzen strenger zu überwachen, werden Hunderttausende Menschen weiter Richtung Europa ziehen wollen. Denn Erdogan bietet den Flüchtlingen keine Perspektive. Vertreibt er nun auch noch die Kurden? Ein Kommentar.

von Michael Martens

Es stimmt, dass Europa die Flüchtlingskrise ohne die Unterstützung der Türkei nicht in den Griff bekommen wird. Irreführend ist aber die häufig mit dieser Einsicht verbundene Erwartung, wenn es nur gelänge, die Türkei zu einer strengeren Überwachung ihrer Grenzen zu überreden, werde sich auch die muslimische Flüchtlingswelle nach Europa eindämmen lassen. Manche wollen Ankara zudem viel Geld zur Verfügung stellen, damit die Türkei die Flüchtlinge auf ihrem Staatsgebiet besser versorgen kann.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen.

Doch selbst wenn die Türkei das Geld annähme und zudem zu einer strengeren Überwachung vor allem ihrer Seegrenzen in der Ägäis bereit wäre, änderte dies nichts daran, dass Hunderttausende das Land Richtung Europa verlassen wollen. Sogar in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Ankara sich bereit erklären sollte, die auf den ostägäischen griechischen Inseln anlandenden Flüchtlinge sofort umstandslos wieder zurückzunehmen, würde das an der unbedingten Entschlossenheit der Migranten, nach Europa zu gelangen, zunächst einmal wenig ändern.

Denn um wirklich etwas zu bewirken, müsste die Türkei die rechtliche und tatsächliche Lage der Flüchtlinge in ihrem Land stärken. Statt sie nur zu dulden, müsste sie ihnen den offiziellen Status von Asylbewerbern mit der Aussicht auf gesellschaftliche Integration und spätere Einbürgerung verleihen. Das will Ankara aber nicht. Als Folge einer längst bizarren, sich noch auf den Zweiten Weltkrieg beziehenden Besonderheit der türkischen Gesetzgebung akzeptiert die Türkei trotz kleinerer Anpassungen offiziell weiterhin nur Europäer als Asylsuchende. Mit anderen Worten: Schweizer oder Luxemburger können laut türkischem Recht in der Türkei Asyl beantragen, Syrer oder Iraker nicht. Solange die Türkei Flüchtlingen aus muslimisch geprägten Staaten jedoch keinerlei Perspektiven bietet, werden die meisten von ihnen das Land verlassen, um dort zu leben, wo sie Aussicht darauf haben, eines Tages gleichberechtigte Bürger zu werden.

Mehrheit der syrischen Flüchtlinge lebt nicht in den Lagern

Mehr als 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien sind offiziell in der Türkei registriert. Insgesamt wird ihre Zahl auf zwei Millionen geschätzt. In den mehr als zwei Dutzend vom türkischen Staat errichteten Zeltstädten und Containerdörfern gibt es nicht nur frisches Wasser, genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Die Flüchtlinge genießen dort auch eine medizinische Grundversorgung, es gibt Moscheen, Sporthallen und Schulunterricht für die Kinder. Oft ist die türkische Regierung dafür gelobt worden.

Die gut ausgestatteten Lager sind nicht einmal die halbe Wahrheit über die türkische Flüchtlingspolitik. Mehr als achtzig Prozent der syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben nicht in den streng von der Außenwelt abgeschirmten Lagern, sondern sind weitgehend sich selbst überlassen. Höchstens 300.000 Syrer, also weniger als die Hälfte der Migranten, die allein in diesem Jahr in Deutschland erwartet werden und menschenwürdig untergebracht werden müssen, haben in den Lagern Zuflucht gefunden, für mehr ist dort kein Platz. Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge in der Türkei lebt unter schwierigen, zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen - in Bauruinen und Parks oder zu Wuchermieten in heruntergekommenen Wohnungen.

Eine Perspektive in Zeltstädten?

Eines haben die Flüchtlinge in den Lagern und die auf sich allein Gestellten außerhalb davon gemeinsam: Es fehlt ihnen eine Perspektive, sich jemals ein eigenes Leben in der Türkei aufzubauen. Das fiel anfangs kaum auf, weil viele Flüchtlinge hofften, bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch je unwahrscheinlicher ein baldiger Frieden in Syrien wird, desto deutlicher zeigt sich ihnen, dass sie in der Türkei, wenn sich an den Gesetzen nichts ändert, bestenfalls die Perspektive eines Lebens in Zeltstätten vor sich haben. Ihre arbeitsrechtliche Lage ist unsicher, viele schuften zu Hungerlöhnen und sind ihren Chefs ausgeliefert.

Wer mit Recep Tayyip Erdogan, dem einstweilen noch starken Mann in Ankara, über eine Unterstützung der Türkei in der Flüchtlingskrise verhandeln will, müsste daher nicht in erster Linie über symptomatische Fragen wie Grenzschutz und Rücknahmeabkommen reden, sondern darüber, ob die Türkei bereit wäre, sich als Einwanderungsland zu definieren und entsprechend zu handeln. Doch kann man mit dem türkischen Staatspräsidenten überhaupt verhandeln? Er war in jüngster Zeit kein verlässlicher Partner des Westens.

Wenn Ankara die jetzige aggressive Politik gegen die kurdische Minderheit des Landes unverändert beibehält, droht Europa zudem bald eine weitere große Flüchtlingswelle. Sie bestünde aus Kurden, die aus Südostanatolien fliehen, wo schon jetzt kriegsähnliche Zustände herrschen. Die türkische Armee kämpft dort längst nicht mehr nur gegen die kurdische Terrororganisation PKK, sondern gegen die Kurden insgesamt. Spitzt sich die Lage dort weiter zu, müsste Europa also mit einem Mann über Lösungen der Flüchtlingskrise verhandeln, dessen Politik selbst eine Flüchtlingswelle auszulösen droht.