Limmattaler Zeitung, 01.10.2015

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Schuld ist immer der andere: Wer hat die kleine Elif getötet?

Sie war erst neun Jahre alt und sollte in diesen Tagen wie Millionen andere Kinder in der Türkei nach langen Sommerferien das neue Schuljahr beginnen. Doch die kleine Elif Simsek aus der Stadt Bismil im Kurdengebiet ist tot. Sie starb während eines Gefechts zwischen Sicherheitskräften und PKK-Rebellen in ihrer Stadt: Das Geschoss einer Panzerfaust traf ihr Elternhaus. Der Tod des kleinen Mädchens zeigt nicht nur, wie grausam der neue Kurdenkrieg in der Türkei ist. Er demonstriert auch, dass der Weg zurück zum Friedensprozess mit jedem Tag schwerer wird.

Seit dem Wiederaufflammen des Konflikts Ende Juli liefern sich die Sicherheitskräfte und PKK-Kämpfer in Ostanatolien heftige Gefechte, die auch in den Wohnvierteln der Städte ausgetragen werden. In Bismil versuchten PKK-Anhänger vergangene Woche, Strassensperren zu errichten, um Polizei und Armee den Zugang zu einigen Stadtvierteln zu verwehren.

Nach Darstellung der Behörden griffen Rebellen die anrückenden Fahrzeuge der Sicherheitskräfte mit Panzerfäusten an. Ein Geschoss habe sein Ziel verfehlt und sei im Haus der Familie Simsek eingeschlagen. Elif starb; nach Angaben von Anwälten riss die Explosion dem Mädchen den Kopf ab. Fünf von Elifs Familienangehörigen wurden verletzt. Die Behörden verwiesen darauf, dass die Sicherheitskräfte keine Panzerfäuste einsetzten, die PKK dagegen schon.

Verwandte des getöteten Mädchens und kurdische Medien gaben dennoch dem Staat die Schuld. Die Polizei habe gezielt auf das Haus der Simseks geschossen, sagte Besir Simsek, ein Verwandter von Elif und Augenzeugen des tödlichen Zwischenfalls. Viele Kurden halten es durchaus für möglich, dass die Polizei so etwas tut: In den 1990er-Jahren ging der türkische Staat mit illegalen Mitteln und ohne Rücksicht auf Zivilisten gegen die PKK vor.

Nun wird das Schicksal des Mädchens zum Material im Propagandakrieg zwischen dem Staat und der PKK. Die Behörden sprechen von einem Beispiel für die menschenverachtende Taktik der PKK, kurdische Medien von einem Terrorakt der staatlichen Seite. Die Anwaltskammer in der nahen Grossstadt Diyarbakir forderte eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls, doch niemand weiss, wie das angesichts der Spannungen in Städten wie Bismil bewerkstelligt werden kann. In Regierungskreisen heisst es, anders als in den 1990er-Jahren würden die Sicherheitskräfte heute genau kontrolliert, doch diese Zusicherung kann die Zweifler kaum überzeugen.

Elif wurde im Dorf ihrer Eltern beigesetzt – sie waren in den 1990er-Jahren von den Sicherheitskräften aus ihrer Heimat vertrieben worden. Ali Simsek, ein Kurdenpolitiker und Onkel des Mädchens, sagte bei der Beerdigung, die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan richte «Massaker» unter den Kurden an, um ihre Macht zu retten. Simsek und andere Regierungskritiker werfen Erdogan vor, den Friedensprozess mit der PKK aus wahltaktischen Gründen aufgekündigt zu haben.

Demnach kehrt Erdogan vor der Parlamentswahl am 1. November den Hardliner heraus, um nationalistische Wähler für die AKP zu gewinnen und die legale Kurdenpartei HDP unter zehn Prozent zu drücken und damit aus dem Parlament zu werfen.
(Nordwestschweiz)