spiegel.de, 04.10.2015

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Flüchtlinge: Türkei soll sicherer Herkunftsstaat werden

Von Peter Müller, Brüssel

Bei der Lösung der Flüchtlingskrise ist Europa auf die Hilfe des türkischen Präsidenten Erdogan angewiesen. Vor dessen Besuch in Brüssel fordert ausgerechnet die CSU, die Türkei solle künftig als sicheres Herkunftsland gelten.

In die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei in der Flüchtlingsfrage kommt Bewegung. Unmittelbar vor dem Besuch des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan am Montag in Brüssel, fordert der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), die Türkei zum sicheren Herkunftsstaat zu erklären.

"Die Türkei muss genauso wie alle anderen EU-Beitrittskandidaten zum sicheren Herkunftsstaat erklärt werden", sagte Weber SPIEGEL ONLINE. "Sollten sich die Innenminister gegen die Aufnahme der Türkei in diese Liste aussprechen, müssen konsequenterweise auch die Beitrittsverhandlungen gestoppt werden." Voraussetzung für einen Beitritt sei schließlich, dass in den Kandidatenländern "die Menschenrechte geachtet werden, keine politische Verfolgung stattfindet und diese Länder als sicher gelten".

Erdogan wird am Montag mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk zusammentreffen. Beide setzen auf Erdogans Hilfe, um die hohe Zahl der Flüchtlinge, die in die Europäische Union kommen, zu verringern. Erdogan spielt dabei eine entscheidende Rolle: Schützt er die türkische Grenze, können weniger syrische Flüchtlinge, die in der Türkei in Lagern leben, nach Europa aufbrechen. Tut er dagegen nichts, nimmt der Flüchtlingstreck über die sogenannte Westbalkanroute nicht ab.

Aus Sicht der EU soll es unter anderem gemeinsame Patrouillen der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit der türkischen Marine geben. Sie sollen Schleuser abfangen und Flüchtlinge zurück in die Türkei bringen. Zudem sollen die Türken mithilfe von EU-Geld neue Flüchtlingslager aufbauen und so dafür sorgen, dass Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg in der Türkei bleiben. Die schlechten Lebensbedingungen in den Flüchtlingsunterkünften gelten als ein Hauptgrund, warum sich die Menschen auf den Weg nach Europa machen.

Vorleistung an Erdogan

Sollten die Gespräche am Montag in Brüssel erste Erfolge erzielen, was derzeit offen ist, könnten entsprechende Beschlüsse beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Oktober gefasst werden. Insbesondere Ratspräsident Tusk hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass die EU die Kontrolle über ihre Außengrenzen - etwa zwischen Griechenland und der Türkei - wieder erlangen müsste.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte ihre Parteifreunde nach Informationen von SPIEGEL ONLINE schon vor Wochen im kleinen Kreis darauf vorbereitet, dass die Flüchtlingsfrage ohne eine Kooperation Erdogans nicht zu lösen sei - und dass der türkische Staatschef dafür hohe Zugeständnisse verlangen werde. Auch bei der Befriedung des Bürgerkrieges in Syrien selbst kommt den Türken eine wichtige Rolle zu. Der Vorstoß Webers ist vor diesem Hintergrund auch als Vorleistung an Erdogan gedacht. Denn eine Einstufung als sicherer Staat würde eine enorme Aufwertung der Türkei bedeuten.

Sollte die Türkei tatsächlich zum sicheren Herkunftsstaat erklärt werden, könnten Anträge von türkischen Asylsuchenden schneller behandelt und Antragsteller gegebenenfalls schneller abgeschoben werden. Einen entsprechenden Vorstoß hatte die EU-Kommission bereits vor wenigen Wochen unternommen - allerdings vergeblich. Während die EU-Innenminister sich Anfang September darauf geeinigt hatten, die Staaten des westlichen Balkans zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, blieb die Frage der Türkei offen.

Entscheidender Grund ist, dass die Anerkennungsquote von Asylbewerbern aus der Türkei in der EU (anders als bei jenen vom westlichen Balkan) mit über 20 Prozent relativ hoch ist. Hintergrund ist vor allem der Kurdenkonflikt. Auch die Bundesregierung sieht, anders als CSU-Mann Weber, eine Einstufung der Türkei als sicheren Herkunftsstaat bislang skeptisch. Eine endgültige Entscheidung wird vom Treffen der EU-Innenminister am kommenden Donnerstag in Luxemburg erwartet.