welt.de, 05.10.2015

http://www.welt.de/politik/deutschland/article147192564/Erdogan-muss-die-Grenzen-wieder-schliessen.html

Türkeipolitik der EU

"Erdogan muss die Grenzen wieder schließen"

Recep Tayyip Erdogan spielt eine zentrale Rolle in der Flüchtlingskrise. EU-Politiker bieten ihm Geld für die Unterbringung Schutzsuchender – im Tausch gegen einen effektiven Grenzschutz. Von Andre Tauber

Es könnte keine bessere und auch keine schlechtere Zeit für diesen Besuch geben. An diesem Montag vor genau zehn Jahren waren offiziell die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei in die Europäischen Union aufgenommen worden. Angesichts der autoritären Tendenzen des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan scheinen die Gräben zwischen Europa und dem Land zwischen Orient und Okzident allerdings tiefer als je zuvor zu sein.

Gleichwohl ist der Zwang zur Zusammenarbeit größer als je zuvor geworden. Angesichts der anhaltenden Flüchtlingsströme nach Europa und dem Bürgerkrieg in Syrien ist die Erkenntnis gewachsen, dass sich ohne Mithilfe der Türken die zentralen Probleme Europas in diesen Tagen nicht einfach lösen lassen. Es braucht eine effektive Grenzkontrolle der Türkei. Aber auch eine Lösung des Bürgerkriegs in Syrien.

Nun wird die Europäische Union aufgefordert, Erdogan einen Deal anzubieten: Mehr finanzielle Hilfen für die Aufnahme von Flüchtlingen gegen einen effektiven Grenzschutz. "Erdogan (Link: http://www.welt.de/147178969) muss als Verbündeter Wert darauf legen, dass er die Grenzen wieder schließt", sagte Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament der "Welt". "Dabei hat er einen Anspruch auf die Kooperation der Europäischen Union und auch finanzielle Unterstützung. Das ist eine Frage der Gegenseitigkeit."

Dass sich in den vergangenen Monaten so viele Menschen über die Balkanroute auf den Weg nach Europa machen konnten, hängt auch mit den mangelnden Kontrollen der Türken zusammen. Seit dem Frühsommer machen sich täglich Tausende Menschen von der türkischen Ägäisküste in Schlepperbooten auf den Weg zu den griechischen Inseln. Von dort reisen sie aufs Festland weiter, durch den Westbalkan bis in die EU-Länder Ungarn oder Kroatien, um von dort Richtung Nordwesten – vor allem nach Deutschland – zu gelangen.

Die Staats- und Regierungschefs vereinbarten vergangene Woche bei einem Sondertreffen in Brüssel, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk das Thema gegenüber Erdogan ansprechen sollten. Das Ziel ist es, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, wie den anhaltenden Flüchtlingsströmen begegnet werden soll.

Sechs neue Flüchtlingslager?

Die Vorgespräche scheinen schon weit gediehen zu sein. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtete, mit EU-Finanzierung sollten auf türkischem Boden sechs neue Flüchtlingslager für bis zu zwei Millionen Menschen entstehen. Die EU werde sich hingegen verpflichten, bis zu eine halbe Million Flüchtlinge ohne Schleuser auf sicherem Weg nach Europa zu holen.

Ein effektiver Grenzschutz hat für die Europäische Union Priorität. "Ich erwarte, dass die Türkei fortsetzt, was sie die letzten Jahre gut gemacht hat: eine vorbildliche Flüchtlingspolitik und eine wirksame Kontrolle der Außengrenze", sagte Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Die Türkei sollte im Gegenzug von der EU unterstützt werden, die Flüchtlinge nahe der syrischen Grenze aufzunehmen.

"Es muss mehr Geld für die Flüchtlingshilfe in der Türkei mobilisiert werden", forderte Lambsdorff. "Es kommt uns allemal günstiger, wenn wir gut funktionierende Einrichtungen nahe an Syrien auf türkischem Gebiet haben, als wenn wir Flüchtlinge (Link: http://www.welt.de/146971894) in Hamburg, Dortmund oder Stuttgart aufnehmen." Es wird dafür allerdings höhere Summen brauchen als die bislang diskutierten. "Es reicht nicht, Geld, das ohnehin für die Region vorgesehen war, ein zweites Mal dieser Region zu widmen", sagte Lambsdorff. "Das ist eine unehrliche Politik."

Vor allem die einzelnen EU-Staaten werden in der Pflicht gesehen, mehr Geld für die Flüchtlingshilfe in der Region bereitzustellen. Viele Regierungen hatten in den vergangenen Monaten ihre Beiträge etwa für das UN (Link: http://www.welt.de/147118876) -Flüchtlingswerk UNHCR dramatisch gekürzt. Deutschland kappte die Unterstützung gar um 51 Prozent. "Dass sie vor Monaten drastisch die Mittel für das Nahrungsmittelprogramm für die Flüchtlingslager um Syrien kürzten, war ein großer Fehler", kritisiert der CDU-Außenpolitiker Brok.

"Absolut inakzeptabel"

Auch wenn die EU auf seine Mithilfe angewiesen ist: Erdogan wird in Brüssel nicht hofiert werden. Dass er den Friedensprozess mit den Kurden aufkündigte und die Meinungsfreiheit im Land einschränkte, wird mit Sorge verfolgt. "Man sollte Erdogan darauf hinweisen, das die Eingriffe in die Medienfreiheit (Link: http://www.welt.de/147146934) für ein Nato-Mitglied und einen Beitrittskandidaten absolut inakzeptabel sind", sagte Lambsdorff. "Der ständige Missbrauch der Steuerbehörden oder der Anti-Terror-Gesetzgebung, um kritische Stimmen mundtot zu machen, passt nicht zu einem Mitglied der westlichen Allianz."

Derzeit wird in der Europäischen Union darüber diskutiert, ob die Türkei zu einem sicheren Herkunftsstaat erklärt werden soll, was Asylanträge beschleunigen würde. Eine einheitliche Position zeichnet sich derzeit nicht ab. Angesichts des wieder eskalierten Konflikts mit den Kurden spricht sich Lambsdorff gegen eine solchen Schritt aus. "Die Türkei deswegen zum sicheren Herkunftsstaat zu erklären, wäre menschlich nicht richtig und würde politisch nicht der Realität entsprechen", sagte der FDP-Vizepräsident des Europäischen Parlaments.

Zunächst einmal müsse der Konflikt mit den Kurden enden. "Solange der Versöhnungsprozess mit den Kurden lief, so lange die Gespräche mit Öcalan geführt wurden, es einen wirksamen Waffenstillstand gab und die kurdischen Kommunalpolitiker normal in den Rathäusern und Versammlungen ihrer Gemeinden saßen, konnte man sagen: Es war einigermaßen sicher", sagte Lambsdorff. "Das hat sich jetzt vollkommen verändert. Erdogan führt einen unerklärten Krieg gegen die Kurden."

Es ist ein Krieg, der auch eine gemeinsame Strategie des Westens im syrischen Bürgerkrieg verhindert – zumal nun auch Russland dazu übergangenen ist, Luftschläge gegen Gegner des Assad-Regimes in Syrien zu fliegen. "Der islamische Terror wird gestärkt, wenn Türken Kurden bombardieren und Russen freiheitlichen Syrer", warnt Brok. Am Ende wird der Besuch von Erdogan in Brüssel auch dazu dienen, die Türkei nach zehn Jahren Beitrittsverhandlungen wieder Europa anzunähern. "Erdogan", sagte Brock, "muss sich das Vertrauen der Europäischen Union wieder neu erarbeiten."