FAZ, 05.10.2015

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Erdogan in Brüssel

Die Festung, die keine ist

Vorschläge zur Lösung der Flüchtlingskrise gibt es viele. Nur keine, mit der sich die Zahl der Flüchtlinge senken ließe. Was ist von Erdogans Besuch in Brüssel an diesem Montag zu erwarten?

von Michael Martens

Fast 250 Menschen, so besagt es die Statistik des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), sind in diesem Jahr bei dem Versuch ertrunken, von der Türkei aus nach Lesbos oder auf eine andere küstennahe griechische Insel im Osten der Ägäis zu gelangen. Einer der Ertrunkenen, ein drei Jahre alter Junge aus Syrien, wurde durch seinen Tod weltberühmt. Das Bild der an einen türkischen Strand geschwemmten Kinderleiche erschütterte Anfang September Millionen Menschen. Doch trotz fast wöchentlicher Meldungen über gekenterte Flüchtlingsboote besagen die Statistiken eben auch, dass 99,9 Prozent der Menschen, die sich auf das Wagnis einer Überfahrt im Schlauchboot einlassen, wohlbehalten die griechische Küste und damit das Territorium der EU erreichen.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen. Folgen:

Für diejenigen, die noch in der Türkei sind, ist das die entscheidende Statistik. „Legt man die derzeitige Entwicklung zugrunde, werden im kommenden Jahr mehr als 1,8 Millionen Flüchtlinge in Deutschland ankommen – und dabei sind die Auswirkungen der russischen Militärintervention in Syrien noch nicht einmal berücksichtigt“, warnt Gerald Knaus, Chef der auf Migrationsfragen spezialisierten Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“ (Esi).

Einreise direkt aus der Türkei vorgeschlagen

Esi hatte bereits Mitte September einen Vorschlag unterbreitet, den die Europäische Kommission nun offenbar zu großen Teilen übernommen hat. Kern des Vorstoßes von Esi war die Idee, dass die Bundesregierung die Führung übernehmen und sich verpflichten solle, in den kommenden zwölf Monaten 500.000 syrische Flüchtlinge (zunächst war sogar von einer Million die Rede) direkt aus der Türkei nach Deutschland einreisen zu lassen. Das Angebot solle nur für Flüchtlinge gelten, die derzeit in der Türkei registriert sind, um nicht zusätzliche Anreize für die Syrer im Libanon und in Jordanien zu schaffen.

Ankara solle als Gegenleistung zusagen, alle Migranten, die über die Ägäis oder über die türkisch-griechische Landgrenze in Thrakien Griechenland erreichen, sofort wieder zurückzunehmen. Wesentliche Elemente dieser Idee sind offenbar Bestandteil eines Plans geworden, den die EU-Kommission mit der Türkei ausgehandelt haben will, wobei es aus Ankara bisher keinerlei offizielle Bestätigung für die Existenz einer solchen Vereinbarung gibt.

Sechs neue Lager für bis zu zwei Millionen Menschen

Vor dem Eintreffen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Brüssel an diesem Montag warb Esi unterdessen weiterhin für den Vorschlag einer „Paketlösung“: Abnahme einer bestimmten Zahl von Flüchtlingen gegen volle und sofortige Anwendung eines Rücknahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei. In dem am Sonntag erschienenen Esi-Papier „Der Merkel-Plan. Kontrolle zurückgewinnen, Mitgefühl erhalten. Ein Vorschlag zur syrischen Flüchtlingskrise“ arbeiten die Autoren gleichsam nach dem Ausschlussprinzip und werben für ihren eigenen Vorschlag, indem sie dokumentieren, warum andere in den vergangenen Wochen aufgetauchte Ideen angeblich nicht durchsetzbar sein werden.

Überzeugend ist vor allem jener Teil der Analyse, in dem erläutert wird, was alles auf absehbare Zeit nicht funktionieren kann. Das gilt etwa für den Vorschlag, in der Türkei mit europäischem Geld zusätzliche Flüchtlingslager zu errichten und zu betreiben. Die EU-Kommission möchte angeblich sogar sechs neue Lager für bis zu zwei Millionen Menschen teilfinanzieren. Aber wird das die syrischen Flüchtlinge dazu bringen, auch in diese Lager zu ziehen und dort zu bleiben? Werden sich die Menschen auf die Perspektive eines jahrelangen Lagerlebens einlassen?

Wer in der Türkei mit syrischen Flüchtlingen spricht, muss das bezweifeln. Das gilt umso mehr, sollte der türkische Staat syrischen Flüchtlingen weiterhin eine offizielle Arbeitserlaubnis verweigern. Wenn Berlin hingegen den deutschen Arbeitsmarkt für Flüchtlinge öffnet, so wie es in der deutschen Diskussion oft als Forderung auftaucht, wird sich die von Deutschland ausgehende Sogwirkung auf viele Flüchtlinge noch einmal erhöhen.

Auch andere Vorschläge ändern kurzfristig nichts. Die Schaffung einer europäischen Asylbehörde mag ein bürokratischer Fortschritt sein, doch die Existenz eines solchen Amts würde an der Zahl der nach Europa drängenden Flüchtlinge nichts ändern. Eine für die gesamte EU geltende Liste, die Albanien, Bosnien, Mazedonien, Kosovo, Montenegro, Serbien sowie die Türkei zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt, wäre zwar hilfreich, doch kommt weniger als ein Fünftel (17 Prozent) der Flüchtlinge aus diesen Ländern. Die Zahl der Bootsflüchtlinge in der Ägäis bliebe davon also weitgehend unberührt. Das gilt auch für in Griechenland und Italien geplante Registrierungszentren („Hotspots“).

„Festung Europa“ längst geschleift

Alle diese Vorschläge können dazu beitragen, den Flüchtlingsstrom in geordnetere Bahnen zu lenken. Als Instrumente zur Verringerung der Flüchtlingszahlen sind sie aber ebenso ungeeignet wie der ungarische Grenzzaun. Weiterhin erreichen Zehntausende die österreichische und danach die deutsche Grenze über Ungarn. Die viel beschworene „Festung Europa“ ist längst von der Wirklichkeit geschleift.

Auch für das Argument, es gelte, das Treiben der Menschenschmuggler zu bekämpfen, hat der Esi-Leiter Knaus wenig Verständnis: „Die Nachfrage nach einem Weg nach Europa ist so groß, dass sich immer Anbieter finden werden.“ Anders gesagt: Die Ansicht, die Flüchtlingskrise ließe sich durch die Verhaftung von Menschenschmugglern lösen, ist ungefähr so zutreffend wie die Überzeugung, Rauschgiftabhängigkeit ließe sich durch eine Festnahme von Dealern aus der Welt schaffen. Die oft zu hörende Forderung nach einer „Bekämpfung der Fluchtursachen“ schließlich wird in der Esi-Analyse nicht erwähnt. „Nichts von dem, worüber derzeit in Brüssel diskutiert wird, kann kurzfristig etwas ändern“, fasst Knaus zusammen.

Warum sollte die Türkei Menschen davon abhalten, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen, wenn selbst EU-Mitglieder (übrigens gehört trotz gegenteiliger Rhetorik auch Ungarn dazu) Flüchtlinge in Busse und Züge setzen, um sie möglichst schnell an die Deutschen loszuwerden? Und auch das Angebot einer Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger bei Reisen in die EU habe seine Tücken, so Knaus: „Eine Entscheidung darüber können schließlich nur die Mitgliedstaaten treffen, die Kommission hat da nichts zu sagen. Damit ein solcher Vorschlag glaubwürdig sein kann, müsste er aus Paris und Berlin kommen statt aus Brüssel.“

Doch angesichts der Erfahrungen mit der Visa-Liberalisierung für Serbien, Mazedonien, Bosnien und Albanien (gemeinsam etwa 15,5 Millionen Einwohner) wird die Visa-Liberalisierung für die Türkei (75 Millionen Einwohner) politisch in den Hauptstädten kritisch gesehen. Aussichtsreich seien Verhandlungen mit der Türkei nur, wenn Deutschland die Führung übernehme, sagt Knaus. „Bei diesem Thema kann die EU nur sehr wenig anbieten (...) Die europäischen Institutionen liefern nur Stückwerk, sie haben keinen kohärenter Plan vorgelegt. Nur die deutsche Kanzlerin ist in der Lage, wirklich zu handeln.“

Doch selbst, wenn sich die Kanzlerin und der Staatspräsident der Türkei von dem Plan überzeugen ließen – ist er politisch durchsetzbar? In der Türkei findet am 1. November die Parlamentswahl statt, in der Erdogans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ vermutlich wieder die absolute Mehrheit verfehlen wird. Erdogans Popularität sinkt. Das immerhin hat er mit Angela Merkel gemeinsam.