welt.de, 05.10.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article147244689/Foto-von-Leiche-an-Polizeiauto-schockt-die-Tuerkei.html

Schändung

Foto von Leiche an Polizeiauto schockt die Türkei

Die Gewalt im Südosten der Türkei erreicht eine neue Stufe: Im Internet kursiert ein Bild, das einen toten Mann zeigt, der, an ein Polizeiauto gebunden, durch die Straße geschleift wird. Von Deniz Yücel , Trabzon
In der Türkei kommt es zurzeit immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei: In Istanbul trieben Sicherheitskräfte im September regierungskritische Demonstranten auseinander
Foto: dpa In der Türkei kommt es zurzeit immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei: In Istanbul trieben Sicherheitskräfte im September regierungskritische Demonstranten auseinander

Ein lebloser menschlicher Körper liegt in der Dunkelheit auf einer Straße, am Hals hinten an ein Polizeifahrzeug gebunden – dieses Foto (Link: http://twitter.com/hdpdemirtas/status/650585392752762881) bewegt die Türkei. Entstanden ist das Bild in der türkisch-kurdischen Provinzhauptstadt Sirnak, wo sich bewaffnete Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Angehörige der Sicherheitskräfte seit einigen Tagen bewaffnete Auseinandersetzungen liefern.

Bei dem Toten handelt es sich um den 24-jährigen Haci Lokman Birlik, einen Schwager der HDP-Abgeordneten Leyla Birlik. Zuerst wurde das Bild über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet, versehen mit dem Kommentar: "Ich lasse meine Soldaten und Polizisten keine Kadaver transportieren." Am Abend griff Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP), das Thema auf. "Seht euch dieses Foto gut an", schrieb er auf Twitter. "Niemand soll es vergessen. Denn wir werden es auch nicht vergessen."

Bald darauf machte ein anderes Bild über Twitter und Facebook die Runde: Dasselbe Polizeifahrzeug im schummrigen Licht, nur ohne Leiche. Dies sei das Originalfoto, das andere sei eine Fotomontage, behaupteten AKP-Anhänger, wobei ein Vergleich der beiden Fotos (Link: https://twitter.com/dunyaderya34/status/650717028899258369) eher das leere Bild wie eine mäßig gelungene Bildbearbeitung wirken ließ.

Wurde der Mann ermordet?

Dann bestätigte die AKP-nahe Tageszeitung "Sabah" die Echtheit des Bildes. Dieses Verfahren sei "eine weltweite übliche Routinekontrolle", wenn der Verdacht vorliege, der Körper könne mit einem Sprengsatz präpariert sein – angesichts der zusammengebundenen Beine des Mannes eine zynische wie offensichtlich unsinnige Behauptung. Am Abend tauchte schließlich ein Video auf, das diesen Spekulationen ein Ende bereitete. In diesen aus dem Innern des Polizeifahrzeugs gefilmten Aufnahmen ist zu sehen, wie der Körper durch die Straße geschleift wird – und zu hören, wie einige Männerstimmen das Opfer verhöhnen und beschimpfen. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu äußerte sich am Montagnachmittag zu dem Fall. Eine solche Behandlung sei für einen Rechtsstaat inakzeptable, selbst wenn es sich um Terroristen handle. Allerdings würde das Foto zur "Provokation" verbreitet, sagte er im Interview der Zeitung "Habertürk".

Unklar sind noch die Umstände, unter denen Birlik ums Leben kam. Die prokurdische Nachrichtenagentur Diha zitiert einen Augenzeugen, der gesehen haben soll, dass Birlik am Straßenrand eine Verletzung am Fuß verbinden wollte, als er aus diesem vorbeifahrenden Fahrzeug "exekutiert" worden sei. Die Polizisten hätten noch auf den Mann geschossen, als sich dieser nicht mehr bewegt habe. Birliks Körper weise "zahlreiche" Einschüsse auf, so Diha weiter.

Doch so hart das klingt: Daran, dass im Südosten der Türkei täglich Soldaten, PKK-Kämpfer und Zivilisten ums Leben kommen, hat man sich wieder gewöhnt. Für Aufsehen sorgen weniger die Todesmeldungen selbst als Meldungen über besondere Todesumstände.

So wie dieses Foto des leblosen Körpers von Haci Lokman Birlik. Eines dieser Bilder, in denen sich ein Konflikt ikonenhaft verdichtet – und die sich ihrerseits auf den Konflikt auswirken. Inzwischen hat Interims-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (AKP) eine Untersuchung des Vorfalls angekündigt.

Und das ist nicht einmal das einzige schockierende Bild des Wochenendes. Ein Video aus dem südostanatolischen Ort Silvan zeigt einen Polizisten, der auf offener Straße einem Reporter eines prokurdischen Regionalsenders eine Pistole an die Schläfe setzt.

Und dramatisch ist die Lage im Ort Nusaybin an der türkisch-syrischen Grenze. Auch hier liefern sich Sicherheitskräfte mit jungen Militanten aus dem Umfeld der PKK, die sich in einigen Vierteln verschanzt haben, bewaffnete Auseinandersetzungen. Seit Donnerstag herrscht eine Ausgangssperre, der Ort ist abgeriegelt, wie zuvor schon in Cizre (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article146354306/Alles-ist-kaputt-Es-sieht-hier-aus-wie-in-Kobani.html%C2%A0) werden zivile Opfer befürchtet.

Unterdessen hat die Wahlkommission den Antrag abgelehnt, bei der vorzeitigen Parlamentswahl am 1. November in einigen kurdischen Orten die Wahlurnen verlegen zu lassen. In Teilen von Cizre und anderen kurdischen Städten wollten die Behörden – offiziell aus Sicherheitsgründen – keine Wahlurnen aufstellen und die betroffenen Wähler stattdessen im Stadtzentrum abstimmen lassen, was Oppositionelle wegen möglicher Manipulationen abgelehnt hatten.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zeigte sich verärgert über diese Entscheidung. "Wenn es bei der Wahl wieder zu solchen Problemen kommt wie im Juni, dann ist dafür die Wahlkommission verantwortlich", sagte er am Sonntag.

Wahlkampf kaum noch möglich

AKP-Politiker behaupten immer wieder, das hohe Wahlergebnis der HDP in den kurdischen Gebieten sei durch Erpressung der PKK zustande gekommen. Beweise konnte sie für diese Behauptung freilich nicht vorlegen. Fest steht hingegen, dass die HDP mit ihrem Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde die absolute Mehrheit der AKP gebrochen hat. Und fest steht, dass nach dem jetzigen Stand der Dinge die Neuwahl das letzte Wahlergebnis bestätigen wird: Aktuelle Umfragen zweier zuverlässiger Meinungsforschungsinstitute prognostizieren der AKP wie der HDP nur geringfügige Einbußen, aber keine neue Gesamtkonstellation.

Dabei wird es für die HDP immer schwerer, einen normalen Wahlkampf zu führen. Nach den zahlreichen Übergriffen auf Parteibüros (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article146176146/Wir-wollen-keine-Operationen-wir-wollen-Massaker.html%C2%A0) trauen sich die Kandidaten vielerorts nicht, einen Straßenwahlkampf zu führen. Und in Großstädten wächst der staatliche Druck: Am Wochenende wurden in Istanbul 44 Lokalpolitiker unter dem Verdacht auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation festgenommen, darunter die Vorsitzenden der bürgerlichen Bezirke Besiktas und Sisli.

Setzt die AKP auf einen Wahlboykott der HDP?

Und vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen all diesen Meldungen – vielleicht, so vermuten jedenfalls unabhängige Regierungskritiker, sei all dies der Versuch, die HDP zu einem Wahlboykott zu provozieren. Dabei hätten nicht allein Erdogan und die AKP ein Interesse an einer Wahl ohne die HDP. Auch die PKK könne daran interessiert sein, weil ihr der politische Erfolg der HDP und ihres charismatischen Vorsitzenden Selahattin Demirtas nicht geheuer sei.

Gewiss nur eine Vermutung. Aber immerhin eine, die erklären würde, warum die PKK in den letzten Wochen und Monaten die Eskalation gesucht hat und mit ihrer Verlagerung des Krieges (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article146805380/Die-PKK-traegt-den-Krieg-in-die-Staedte.html%C2%A0) in die Städte ihren Anteil an solchen Bildern wie dem aus Sirnak trägt. HDP-Politiker beteuern demgegenüber, dass sie auf keinen Fall an einen Boykott denken. Aber in vier Wochen kann noch viel passieren.

Als wäre all das nicht genug, berichtet die größte Oppositionspartei CHP, dass rund 670.000 Wähler, die im Juni noch in den Wählerverzeichnissen eingetragen waren, dort nicht mehr zu finden seien. Dafür gebe es rund 350.000 neue Einträge – eine Abweichung von zusammen über eine Million Stimmen, die nicht, davon ist die CHP überzeugt, mit natürlichen Ursachen erklärt werden könnten.

Die CHP hat nun eine Anfrage im Parlament eingereicht. Debattieren kann das Parlament nicht darüber. Das trat am Freitag erstmals nach der Sommerpause zusammen – und verabschiedete sich nach einer Eröffnung gleich wieder in die Wahlferien. Gesprochen hat nur einer: Recep Tayyip Erdogan.