Neues Deutschland, 05.10.2015

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Von Ismail Küpeli

Ein paar Schritte voraus

Der Kampf um Kobane und der Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens. Warum eine kleine Grenzstadt eine Herausforderungen für die westliche Linke ist

Am 28. September 2014 begann der Islamische Staat (IS) den Angriff auf die kleine Grenzstadt Kobanê in Rojava/Nordsyrien. Angesichts der vorhergegangenen IS-Siege in Irak und Syrien, in denen Millionenstädte wie Mossul innerhalb weniger Tage erobert wurden, schien die Schlacht um Kobanê keine große Bedeutung zu haben. Kaum ein westlicher Beobachter hätte im Vorfeld erwartet, dass ein paar hundert kurdische Kämpfer die Stadt über vier Monate halten könnten und der IS hier seine erste große Niederlage einstecken würde.

Nachdem aber Kobanê entgegen der Erwartungen nicht in kurzer Zeit fiel und die PKK-nahen kurdischen Kämpfer die Stadt halten konnten, wurde die Weltöffentlichkeit auf den Konflikt aufmerksam. Einige Wochen lang wurde hastig berichtet, emotional bewegende Bilder wurden eingefangen und herumgereicht - nur um sich nach kurzer Zeit dem nächsten Konfliktherd zuzuwenden.

Die Befreiung der Stadt Ende Januar 2015 schaffte es noch einmal kurz in die Schlagzeilen. Inzwischen ist nicht nur die Stadt, sondern über zwei Drittel des gesamten Kobanê-Kantons wieder unter der Kontrolle der kurdischen YPG. Durch die Niederlage in Kobanê ist der IS wohl nachhaltig geschwächt und könnte in absehbarer Zeit weitere Rückschläge erleiden.

In der Region selbst war der Kampf um Kobanê nicht nur ein Medienhype, sondern eine zentrale Auseinandersetzung, in der alle relevanten Akteure in der ein oder anderen Weise involviert waren. Über die staatlichen Akteure wurde bereits viel berichtet. So ist etwa die Rolle der Türkei und der arabischen Golfstaaten beim Aufbau des IS inzwischen bekannt. Andere Aspekte sind nach wie vor kaum beachtet worden, so etwa der Charakter der kurdischen Selbstverwaltungseinheiten in Rojava/Nordsyrien.

Ebenso ist wenig über die Ausstrahlungskraft des Konflikts um Kobanê bekannt. Viele Linke in der Türkei - unabhängig von der ethnischen Zuordnung - hat der Kampf um Kobanê dazu bewegt, die Verteidigung der Stadt als die Verteidigung eines linken und emanzipatorischen Projekts gegen Jihadisten anzusehen. Sie haben sich engagiert, sei es durch Spendenkampagnen und Öffentlichkeitsarbeit oder dadurch, dass sie in Kobanê an der Seite der kurdischen YPG gekämpft haben.

Insbesondere im Kontext der Kämpfe und Verhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK, einschließlich ihr nahestehender Organisationen, spielt der Konflikt um Kobanê weiterhin eine wichtige Rolle. Beide Seiten wetteifern um die Sympathien der Weltöffentlichkeit, wobei die PKK durch den Kampf gegen den IS eine enorme Aufwertung bekommen hat. Die türkische Regierung versucht hingegen recht erfolglos die türkische Unterstützung für die Jihadisten in Syrien und Irak zu leugnen.

Im Sommer 2015 kehrten Kobane und Rojava wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Am 20. Juli verübte der IS einen Selbstmordanschlag in der türkischen Grenzstadt Suruç auf Kobane-Wiederaufbauhelfer. Bei dem Anschlag starben 32 Menschen. Insbesondere durch die bisherige Politik des türkischen Staates war es für manche Beobachter naheliegend, hier eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes zu vermuten. Diese Einschätzung führte bei einigen PKK-nahen Akteuren dazu, Racheaktionen gegen vermeintliche IS-Mitglieder in der Türkei durchzuführen, bei denen 2 Polizisten und 2 Zivilisten getötet wurden. Diese Attentate dienten wiederum der türkischen Regierung als Kriegsgrund, um anschließend umfangreiche Luftangriffe gegen PKK-Strukturen im Nordirak zu befehligen. Bei diesen Luftangriffen starben viele PKK-Kämpfer.

Seitdem dauern die Angriffe und Gefechte, in deren Verlauf zahlreiche türkische Polizisten, Soldaten und PKK-Kämpfer getötet wurden, an. Die AKP-Regierung nutzt die Eskalation dazu, gegen die PKK und mit ihr verbündete Kräfte militärisch vorzugehen. Selbst ein Verbot der prokurdischen und linken HDP wird derzeit von der türkischen Justiz angestrebt. Der Krieg zwischen der Türkei und der PKK hat auch für Rojava unmittelbare Folgen. Es kam bereits zu ersten kleineren Angriffen der türkischen Armee auf YPG- und FSA-Stellungen. Des Weiteren werden die türkischen Pläne, in Nordsyrien eine Pufferzone zu errichten, wieder aufgewärmt. Eine solche Pufferzone wäre gegen die PKK-nahen Kräfte wie etwa die PYD und die YPG gerichtet und wäre so eine Vorstufe zu einem offenen Krieg gegen Rojava insgesamt.
Herausforderungen für die westliche Linke

Der Kampf um Kobanê bietet aber auch Anlass, zentrale linke Auseinandersetzungen in Deutschland neu aufzugreifen - wie etwa die Frage nach Gewalt als Mittel der Politik und nach dem Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung. Insbesondere die Gewaltfrage tritt hier in verschärfter Form auf, weil es nicht etwa darum geht, ob es legitim ist, eine Demonstration von Nazis gewaltsam zu blockieren, oder ob es vertretbar ist, Bundeswehrfahrzeuge in Brand zu setzen.

In Kobanê geht es vielmehr darum, wie man dazu steht, wenn Kämpfer sich selbst in die Luft sprengen, um den Aufmarsch der Jihadisten zu behindern, oder was davon zu halten ist, dass nur durch US-Luftangriffe ein Sieg des IS verhindert wurde. Anders gesagt: Kann ein Kampf, der nur durch Selbstmordangriffe und US-Bomben zu gewinnen ist, überhaupt ein Bezugspunkt für linke Politik sein?

Auch andere Streitpunkte lassen sich anhand von Rojava zugespitzter diskutieren. Wie stellen wir uns einen radikalen gesellschaftlichen Umbruch vor? Haben wir Vorstellungen darüber, wie sich linke Utopien hier und heute umsetzen lassen? Setzen wir auf einen gleichen globalen Wandel oder auf geografisch begrenzte Ansätze? Ist es im kapitalistischen Weltsystem überhaupt möglich, alternative Enklaven zu verteidigen? Wenn ja, was sind wir bereit dafür zu tun, und welche (Gewalt-)Mittel führen dazu, dass die Gegenentwürfe Herrschaft und Ausbeutung doch reproduzieren, anstatt sie zu überwinden? Anders gesagt: Lässt sich eine Revolution durch Krieg verteidigen oder ist eine militärische Auseinandersetzung der Tod eines jeden emanzipatorischen Projekts?

Die Herausforderung besteht darin, die Debatten um Kobanê und Rojava nach dem Medienhype und dem darauf folgenden Desinteresse fortzuführen und inhaltlich zu vertiefen. Internationalismus scheint vielfach ein Thema für Spezialisten zu sein, wodurch bei jedem größeren Konflikt auf der Welt die Linke in ihrer Mehrheit beim Nullpunkt der Debatte ansetzt und bereits wieder aus der Debatte aussteigt, bevor ein wirklicher Erkenntnisgewinn eingesetzt hat.

Natürlich können Texte allein keinen Wandel im linken Umgang mit weltweiten Konflikten herbeizaubern. Sie können aber einen Beitrag dazu leisten. Notwendig ist dafür eine selbstkritische Sicht auf die eigene bisherige Praxis und eine größere Offenheit gegenüber anderen Perspektiven und Positionen - gerade wenn es um Weltregionen geht, über die man wenig Sicheres weiß. Hier müsste allerdings die deutsche Linke erst einmal bereit sein, die Deutungshoheit abzugeben und anzuerkennen, dass linke Bewegungen in anderen Weltgegenden einen Vorsprung in Fragen praktischer Emanzipationsprozesse haben.
Kampf um den Nahen Osten?

Die vorliegenden Beiträge setzen sich mit einer Themenbreite auseinander, die notwendig ist, um aus den Erfahrungen in Kobane und ganz Rojava zu lernen. Sebahattin Topcuoglu skizziert in »Kurdinnen und Kurden ohne Staat« die Geschichte der kurdischen Akteure im Nahen Osten in und in Beziehung zu den Nationalstaaten, in denen sie leben. Dabei wird auch deutlich, dass inzwischen einige Akteure den Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat abgelegt und transnationale und dezentrale Konzepte entwickelt haben.

Anschließend fokussieren wir die kurdische de-facto Autonomieregion Rojava in Nordsyrien. Ulf Petersen beschreibt die Entstehung und Ursprünge von Rojava und stellt die Beziehungen zwischen diesem Projekt und der Revolution in Syrien dar. Ebenso wird der Gesellschaftsvertrag von Rojava detailliert dargestellt und diskutiert. Dilar Dirik fokussiert die Rolle der Frauen im Projekt Rojava und macht deutlich, dass die Einbindung der Frauen in Politik, Gesellschaft und Militär nicht bloß einer Bürgerkriegssituation, in der alle Kräfte benötigt werden, geschuldet ist. Vielmehr korreliert diese Entwicklung der politisch-ideologischen Wende innerhalb der PKK-nahen Kräfte.

Lokman Turgut skizziert die Geschichte und Gegenwart der PKK - ein für Rojava zentraler Akteur .Seine These ist, dass die PKK primär eine politische Organisation ist, die Gewalt zur Durchsetzung von politischen Strategien einsetzt – sich aber nicht allein durch die Gewalt charakterisieren lässt. Christian Jakob geht auf die besondere Situation in Deutschland ein, in der die Kurden in Syrien und dem Irak einerseits als Verbündete im Kampf gegen den IS angesehen werden, und gleichzeitig die PKK, einer der zentralen kurdischen Akteure in der Region, in Deutschland als »terroristische Vereinigung« verboten ist.

Anschließend schauen wir uns die Situation in der Türkei an, die mitentscheidend dafür ist, wie sich die Lage in Rojava weiterentwickeln wird. Güney Iþýkara, Alp Kayserilioðlu und Max Zirngast analysieren den Aufstieg der AKP nach den krisenhaften 1990er Jahren und skizzieren die politischen Strategien der AKP-Führung. Dabei wird deutlich, dass das AKP-Regime gesellschaftspolitisch konservativ und ökonomisch eher neoliberal agierte und die Islamisierung der Gesellschaft als Mittel der Machtsicherung eingesetzt wurde. Die sozialen Bewegungen um die Gezi-Proteste stellt Fatma Umul dar und lässt die Aktivisten selbst zur Wort kommen. Dabei wird sichtbar, dass die neuen sozialen Bewegungen basisdemokratisch und pluralistisch geprägt sind.

Die recht hoffnungslose Lage der syrischen Opposition jenseits der Kurden beschreibt Hannah Wettig und ruft die Anfänge der syrischen Rebellion und die brutalen Niederschlagungen seitens des Assad-Regimes in Erinnerung. Sie geht davon aus, dass das Projekt Rojava nicht auf ganz Syrien ausgedehnt werden kann und sieht die säkulare syrische Opposition trotz ihrer Schwäche als die einzige Trägerin eines demokratischen Syriens in der Zukunft. Elke Dangeleit und Hans-Günter Kleff gehen auf die Situation der religiösen Minderheiten in Syrien und dem Irak ein, die nicht ausschließlich vom IS verfolgt und vertrieben werden. In der Region gibt es kaum noch Orte, in denen Minderheiten überleben können. So bildet das Projekt Rojava mit seiner multiethnischen und multireligiösen Zusammensetzung einen Hoffnungsschimmer.

Auf die derzeit größte Gefahr für Rojava, nämlich den IS, gehen die beiden Abschlussbeiträge ein. Attila Steinberger skizziert die Ideologie des »Islamischen Staats« als einen »salafistischen Manierismus« und erklärt die Attraktivität des IS durch das Scheitern der anderen, nicht-religiösen Ideologien. Jean Rokbelle dagegen erklärt die Attraktivität des IS gerade für sunnitische Araber über die Schaffung von Sicherheit inmitten eines Bürgerkrieges. Ebenso werden die organisatorische Geschichte des IS skizziert und die Gegenakteure dargestellt.

Die Beiträge dienen in ihrer Gesamtheit dazu, den Blick zu öffnen und Rojava nicht isoliert von der Situation in der gesamten Region zu sehen. Die Beschäftigung mit Rojava soll indes nicht akademisch bleiben. Sie sollte dazu dienen, Erkenntnisse und Lehren für den Kampf um Emanzipation auch hier und heute zu ziehen. Das »bessere Leben« ohne Ausbeutung und Herrschaft muss keine Utopie bleiben, wenn wir bereit sind, von denen zu lernen, die hier ein paar Schritte voraus sind.

Ismail Küpeli

Dieser leicht gekürzte Auszug ist der Einleitung des Sammelbandes “Kampf um Kobane” entnommen, der von Ismail Küpeli im Verlag Edition Assemblage herausgegeben wurde. Mit Beiträgen von Güney Işıkara, Alp Kayserilioğlu & Max Zirngast, Fatma Umul, Ulf Petersen, Hannah Wettig, Jean Rokbelle & Attila Steinberger u.a. Weitere Informationen: www.edition-assemblage.de Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er analysiert die Konflikte in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten. Ebenso berichtet er über die sozialen Proteste und die Folgen der neoliberalen Krisenpolitik in Europa. Er wird die Beiträge über die Situation in Rojava, die politische Lage in der Türkei, den blutigen Bürgerkrieg in Syrien und den „Islamischen Staat“ am 20. Oktober ab 19 Uhr im k-fetisch in der Wildenbruchstraße 86 in Berlin zur Diskussion stellen.