junge Welt, 06.10.2015

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Zynisches Geschäft mit Erdogan

Türkischer Präsident in Brüssel empfangen. EU braucht Ankara für weitere Abschottung Europas

Von André Scheer

Es sind grausame Bilder: Ein Fahrzeug des türkischen Militärs schleift einen gefesselten jungen Mann durch die Straßen von Sirnak. Wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF berichtete, soll es sich bei dem Opfer um den 24jährigen Haci Lokman Birlik gehandelt haben, der am Freitag von Soldaten hingerichtet worden sei. Birlik war demnach bei einem Angriff der Armee auf Sirnak verwundet worden. Die Soldaten erschossen ihn, sprangen auf seinen Kopf und banden ihn schließlich an ihren Lastwagen.

Der Chef der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, machte die Regierung in Ankara direkt für das Verbrechen verantwortlich. ANF zitierte ihn am Montag mit den Worten: »Wenn sie das mit einem Toten machen – was würden sie einem Lebenden antun!« Auch Parlamentsabgeordnete der deutschen Linkspartei verurteilten am Montag die grausame Tat: »Die Weisung für eine derartige Zuspitzung des Konflikts kommt von Staatspräsident Erdogan. Die Bundesregierung und die EU sind gefordert, endlich Konsequenzen zu ziehen.«

Doch die EU-Kommission will die Türkei weiter zu einem »sicheren Herkunftsland« erklären. Das hatte sie schon Anfang September per Pressemitteilung angekündigt. Am Montag wurde nun Recep Tayyip Erdogan in Brüssel empfangen. Vorgesehen waren Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz. Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am Wochenende berichtete, sollte dem türkischen Staatschef dabei ein Aktionsplan vorgelegt werden, der den Bau von sechs neuen Flüchtlingslagern auf türkischem Boden vorsieht. In diesen sollen bis zu zwei Millionen Menschen festgehalten werden. Die EU will »im Gegenzug« bis zu eine halbe Million Menschen in Europa aufnehmen und eine Milliarde Euro an Ankara überweisen. Ansonsten sollen die türkische und die griechische Küstenwache gemeinsam mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Ägäis noch schärfer gegen Flüchtlinge abriegeln.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete das als »moralische Bankrotterklärung Europas«. Gerade vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit sowie zahlreicher Berichte über Menschenrechtsverletzungen sei der Plan der EU-Kommission, die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen, »zynisch«. Die Türkei drohe für Flüchtlinge zur Falle zu werden.

Auch deshalb, weil der Krieg in Syrien jederzeit auf die Türkei übergreifen kann. Ankara unterstützt im Nachbarland islamistische Kampforganisationen gegen die Regierung von Baschar Al-Assad. Nachdem am Samstag ein russisches Kampfflugzeug offenbar den türkischen Luftraum verletzte, drohte Ankara damit, die Jets im Wiederholungsfall abzuschießen. Russland beteiligt sich seit rund einer Woche auf Bitte von Damaskus an Luftangriffen auf »terroristische und radikale Organisationen«, wie es Regierungssprecher Dmitri Peskow formulierte. Der Westen wirft Moskau vor, auch die »gemäßigte Opposition« zu attackieren. Die aber sei ein »Phantom«, erklärte am Montag der russische Außenminister Sergej Lawrow. »Wir sind jederzeit bereit, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, wenn es sich tatsächlich um effiziente bewaffnete Gruppen der aus Syrern bestehenden patriotischen Opposition handelt«, sagte er der Nachrichtenagentur TASS.