Frankfurter Rundschau, 06.10.2015

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Scharfe Kritik an Russland

Von Frank Nordhausen

Die russischen Bombardements in Syrien verschärfen die Flüchtlingskrise, kritisiert der türkische Vizepremier. Mehrere Rebellengruppen werfen Moskau in einer Erklärung vor, Zivilisten zu massakrieren.

Wegen der russischen Luftangriffe in Syrien rechnet die Türkei mit einem Massenexodus von mehr als einer Million zusätzlicher Flüchtlinge. Das sagte der türkische Vizepremier Numan Kurtulmus am Dienstag in Ankara. Die russischen Bombardements würden überwiegend dichtbesiedelte sunnitische Gebiete Nordwestsyriens treffen, die „moderate“ Rebellen gegen das Regime von Baschar al-Assad kontrollieren, so Kurtulmus. EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte am Dienstag in Straßburg vor dem EU-Parlament, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem Brüssel-Besuch am Montag sogar die Befürchtung geäußert habe, dass wegen der Beteiligung Russlands und Irans an den Kämpfen noch bis zu drei Millionen Syrer ihr Land verlassen könnten.

Die vergangene Woche gestarteten Angriffe russischer Kampfjets konzentrieren sich bisher vor allem auf Gebiete um die nordsyrischen Städte Homs und Idlib, in denen die Terrormiliz „ Islamischer Staat“ (IS), das offizielle Kriegsziel Moskaus, gar nicht operiert. Mehr als 40 syrische Rebellengruppen aus den betroffenen Gebieten veröffentlichten am Montag eine gemeinsame Erklärung, in der sie Moskau ein Massaker an Zivilisten in der Provinz Homs vorwerfen. Sie bezeichnen die russische Militäroperation in Syrien als „offene Besatzung“ und erklären die russischen und iranischen Streitkräfte im Land zum „legitimen Ziel“ von Angriffen.

Die Unterzeichner der Erklärung sind moderate und radikale Milizen, die gegen das Regime in Damaskus kämpfen und den Sturz des Präsidenten Baschar al-Assad anstreben, darunter die bedeutenden radikalislamischen Brigaden Ahrar al-Scham und Dschaisch al-Islam. Moderate Brigaden wie Tadschamu al-Esseh, die sich als Teil der Freien Syrischen Armee (FSA) bezeichnen, werden von der Türkei und den USA unterstützt, weil sie sich zur demokratischen, pluralistischen Staatsform bekennen und den IS bekämpfen, auch wenn sie mit Islamistengruppen taktische Bündnisse eingehen. Die Al-Kaida-nahe Al-Nusra-Front hat die Erklärung nicht unterzeichnet.
Moskau entschuldigt sich

Unterdessen hat der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zweimalige Verletzungen des türkischen Luftraums durch russische Kampfflugzeuge vom Typ SU-30 und SU-24 am Samstagabend und Sonntag in der südlichen Region Hatay scharf verurteilt. Türkische Abfangjäger hätten die russischen Jets abgedrängt, sagte er; die Türkei werde mit „den notwendigen Maßnahmen“ auf jede Verletzung des türkischen Luftraums reagieren, „auch wenn es ein Vogel wäre“. Das türkische Außenministerium bestellte den russischen Botschafter zweimal wegen der Vorfälle ein. Staatspräsident Recep Tayyup Erdogan warnte Russland vor einem Ende der guten Beziehungen: „Wenn Russland einen Freund wie die Türkei verliert, mit dem es bei vielen Themen zusammenarbeitet, dann ist das ein großer Verlust“, erklärte Erdogan bei einem Staatsbesuch in Belgien.

Moskau entschuldigte sich für den ersten Zwischenfall offiziell mit der Begründung, dass ein Flugzeug versehentlich „für Sekunden“ die türkische Grenze überquert habe. Diese Erklärung wiesen die US-Regierung in Washington und die Nato als unglaubwürdig zurück. „Für uns sah das nicht wie ein Versehen aus“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag in Brüssel. Er warnte Moskau vor einer Wiederholung und versicherte die Türkei der Unterstützung des Verteidigungsbündnisses; der türkische Luftraum sei gleichzeitig Nato-Luftraum.

Nach einem Bericht des „Wall Street Journal“ befürchten US-Militärexperten, dass syrische Rebellen in ihrer Not jetzt tragbaren Boden-Luft-Raketen, sogenannte Manpads, erwerben könnten, was bisher habe verhindert werden können. „Da wir ihnen nicht helfen, reden die Gruppen jetzt vom unkontrollierten Kauf von Manpads, um sich gegen die Russen zu verteidigen“, zitiert das Blatt einen US-Beamten. „In einer Region, in der auch Al-Kaida operiert, wäre das ein Alptraum.“

Die deutsche Nachrichtenagentur (dpa) erfuhr aus Kreisen der mit Assad verbündeten schiitischen Hisbollah-Miliz im Libanon, dass syrische Regierungstruppen gemeinsam mit den Verbündeten aus Russland, Iran und dem Libanon zurzeit eine Bodenoffensive vorbereiteten. Diese solle sich gegen die moderaten und radikalen, nicht zum IS zählenden Rebellen in den Provinzen Hama und Idlib richten, die das Assad-Regimes pauschal als „Terroristen“ bezeichnet. Für den Angriff würden Tausende Kämpfer der Armee, der Hisbollah, der iranischen Revolutionsgarden und verbündeter Milizen mobilisiert. „Wir sagen dem Regime und seinem russischen Verbündeten: Ihr werdet geschlagen“, zitierte einen Al-Nusra-Sprecher. (mit dpa)
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