Frankfurter Rundschau, 07.10.2015

Die Rückkehr der dunklen Jahre

Das türkische Militär hat in der von Kurden dominierten Stadt Sirnak auch schon vor der Leichenschändung gewütet.

Von Frank Nordhausen

In der Türkei weckt die Schändung der Leiche eines Kurden Erinnerungen an die 90er, die als „die dunklen Jahre“ bekannt sind. Zu dieser Zeit tobte ein Bürgerkrieg zwischen der Armee und der Kurdenguerilla PKK.

Die 1990er Jahre gelten in der Türkei als „die dunklen Jahre“ wegen der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten im Bürgerkrieg zwischen der Armee und der Kurdenguerilla PKK. Wehrpflichtige sammelten abgeschnittene Ohren getöteter PKK-Kämpfer als Trophäen, kurdische Dörfer wurden vom Militär angezündet, Folter und „außergerichtliche Tötungen“ waren an der Tagesordnung. Das Militär folgte der Devise, dass „Terroristen nur mit ihren eigenen Methoden bekämpft“ werden könnten. Die Verbrechen des sogenannten „tiefen Staates“ vergifteten die gesamte Gesellschaft. Wie es scheint, kehren diese dunklen Jahre gerade zurück.

Seit dem Wochenende sorgen zuerst im Internet publizierte Schockfotos und ein grausiges Video für Entsetzen in der Türkei. Darin sieht man, wie Polizisten die Leiche eines jungen Kurden an einem Seil mit ihrem gepanzerten Auto durch die nächtlichen Straßen der südostanatolischen Stadt Sirnak schleifen, in der sich bewaffnete PKK-Kämpfer und Sicherheitskräfte seit Tagen bewaffnete Gefechte liefern. In dem Video, das die Polizisten offenbar selbst auf Youtube hochluden, ist zu hören, wie sie das Opfer verfluchen und verhöhnen. Ein Beamter gratuliert einem Kollegen noch zu der erfolgreichen Tötung.

Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den 24-jährigen Hadschi Lokman Birlik handelt, einen Schwager der kurdischen Parlamentsabgeordneten Leyla Birlik aus Sirnak. Sie gehört der prokurdischen Linkspartei HDP an, die wegen ihrer Kontakte zur PKK von Politikern der islamisch-konservativen Regierungspartei immer wieder als „Terroristenpartei“ diffamiert wird. Laut türkischen Medienberichten wurde Lokman Birlik während einer Schießerei zwischen der Polizei und der PKK-Jugendorganisation am vergangenen Freitag erschossen.

Nachdem AKP-Sprecher zuerst behauptet hatten, dass die Fotos gefälscht seien, erklärte Innenminister Selami Altinok nach Auftauchen des Videos, dass man darauf nicht feststellen könne, ob der Vorfall wirklich stattgefunden habe. Der HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas forderte den Rücktritt des Ministers und kommentierte das Foto der Leichenschändung auf Twitter: „Schaut euch genau dieses Bild an. Lasst es niemand vergessen, denn wir werden es nicht vergessen.“

Zwar nannte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die Leichenschändung „nicht hinnehmbar“ und widersprach damit den Berichten regierungsnaher Medien, wonach die Praxis, Tote hinter Autos herzuschleifen, eine „Routinemaßnahme“ wegen möglicher Sprengfallen sei. Verbrechen der PKK dürfe der Staat nicht mit Verbrechen beantworten. Allerdings würde das Foto zur „Provokation“ verbreitet, sagte er in einem Interview. Inzwischen hat das Innenministerium zwei Ermittler nach Sirnak geschickt, um die Leichenschändung zu untersuchen – nicht aber die bisher ungeklärten dubiosen Umstände des Todes von Lokman Birlik.

Vor allem in den Oppositionsmedien entbrannte anschließend eine heftige Debatte, was die Bilder knapp vier Wochen vor den erneuten Parlamentswahlen am 1. November für die Türkei bedeuteten. „Der Vorfall soll einen Bürgerkrieg im Land entfachen“, schrieb der bekannte Kolumnist Kadri Gürsel.
Nur wenig Informationen aus kurdischen Städten

Andere Kommentatoren vermuteten, dass es darum gehe, die HDP zu einem Boykott der Wahlen zu provozieren, um die bei der Parlamentswahl im Juni verloren gegangene absolute AKP-Mehrheit wiederzuerlangen.

Tatsächlich sind die Aufnahmen aus Sirnak nicht die einzigen Bildbeweise einer erschreckenden Verrohung der Sicherheitskräfte, die sich zunehmend auch gegen Zivilisten richtet. Ein weiteres Video, das am Sonntag im Internet auftauchte, zeigt einen Zivilbeamten eines polizeilichen Sonderkommandos, der seine Pistole direkt auf den Kopf eines kurdischen Journalisten richtet. Der Kameramann Murat Demir hatte eine Polizeioperation im Silvan-Viertel der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir filmen wollen, über das eine Ausgangssperre verhängt worden war. Derselbe Polizeioffizier bedrohte kurz darauf auch die kurdische HDP-Parlamentarierin Sibel Yigitalp mit seiner Waffe. Fast täglich tauchen zudem Bilder misshandelter Kurden und geschändeter Leichen im Internet auf.

Nur wenige Informationen dringen derzeit aus kurdischen Städten wie Cizre, Varto oder Nuseybin, über die tagelange Ausgangssperren verhängt werden. Deren Einwohner würden behandelt, als seien sie allesamt Terroristen, und viele Zivilisten seien unter dubiosen Umständen getötet worden, schrieb der prominente Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz in der Zeitung „Today’s Zaman“: „Es ist wahr, dass die PKK ein schmutziges Spiel spielt, indem sie zum Beispiel Menschen vor den Augen ihrer Angehörigen tötet. (…) Aber kein Staat kann eine bewaffnete Gruppe auf seinem Territorium besiegen, wenn er handelt, als sei er selbst eine gesetzlose Organisation. Die neuerlichen Ereignisse zeigen uns, dass der türkische Staat die Lektion der 90er Jahre nicht gelernt hat.“

Der Kurdenkonflikt war nach dem verheerenden Selbstmordanschlag eines Islamisten auf ein Kulturzentrum in der kurdischen Stadt Suruc im Juli wieder entflammt; Staat und Rebellen beschuldigen sich seither gegenseitig, einen zweijährigen Waffenstillstand gebrochen zu haben. Es vergeht kein Tag mehr ohne Anschläge, Fliegerbomben, Straßenkämpfe und Ausgangssperren.

Nach Angaben des Generalstabs der Armee wurden seit Ende Juli mehr als 2000 Rebellen getötet, während mehr als hundert Polizisten und Soldaten sowie eine wachsende Zahl von Zivilisten umkamen. Anders als in den 90er Jahren tauchen heute wegen der allgegenwärtigen Smartphones viel mehr Foto- und Videobeweise staatlicher Übergriffe auf.
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