junge Welt, 08.10.2015

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Totenruhe und die Macht der Bilder

Suche nach dem richtigen Umgang: Der Wunsch, die Weltöffentlichkeit wachzurütteln und die Würde der Opfer von Kriegsverbrechen

Von Claudia Wangerin

Das Verstümmeln und die entwürdigende Zurschaustellung von Leichen gefallener Gegner sind einerseits Ausdruck soldatischer Verrohung – oft aber auch Kalkül und Mittel der psychologischen Kriegsführung, sei das Ziel Einschüchterung oder Provokation. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nannte es Anfang der Woche zwar ein »äußerst falsches Verhalten«, dass »Sicherheitskräfte« in Sirnak die Leiche des 24jährigen Kurden Haci Lokman Birlik an ein Militärfahrzeug gebunden und durch die Straßen geschleift hatten. Er kündigte sogar Ermittlungen an.

Neu ist das Phänomen aber nicht: Menschenrechtler und Anwälte hatten schon Anfang 2011 von einer »systematischen Straflosigkeit« für solche und andere Kriegsverbrechen in der Türkei gesprochen. Ihre damals in Deutschland gestellte Strafanzeige gegen den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und einige ranghohe Militärs nach dem Völkerstrafgesetzbuch wurde im Jahr darauf von der Bundesanwaltschaft abgewiesen. Überraschend war das nicht. Bereits in den 1990er Jahren, bevor das Internet Massenmedium wurde, war immer wieder Beweismaterial für türkische Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gelangt – darunter Fotos von Leichen, die durch Chemiewaffeneinsätze, Folter oder postmortale Verstümmelung grauenvoll entstellt waren. All das blieb ohne Folgen für die Politik Deutschlands und anderer westlicher Staaten – Waffenlieferungen an Ankara inbegriffen. Dabei gingen sogar Bilder um die Welt, die zeigten, wie ein Kurde mit einem Schützenpanzerwagen zu Tode geschleift wurde. Das Fahrzeug stammte aus Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR – deren Ausrüstung war nach der Auflösung der Republik 1990 von der BRD an andere Staaten verschenkt worden.

So erklärte sich die Verzweiflung kurdischer Aktivisten, die ein besonders grausames Bild für eine Tourismusboykottkampagne gegen die Türkei nutzten: Darauf war ein Soldat zu sehen, der mit den abgeschnittenen Köpfen kurdischer Guerillakämpfer posierte. Die Weltöffentlichkeit sollte wachgerüttelt werden. Ähnliches bezweckte wohl auch der Kovorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, als er am 4. Oktober das Foto der Leiche von Haci Lokman Birlik hinter dem Polizeiauto via Twitter verbreitete. »Schaut euch das Foto gut an«, schrieb er. Niemand solle es vergessen.

Auch die englischsprachige Facebook-Seite »Save Kobane«, die zur Solidarität mit der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava/Nordsyrien aufruft, hatte das Video der Tat zunächst geteilt, entfernte es aber am Tag darauf: »Seine Familie hat uns gebeten, dieses barbarische Video nicht zu teilen, und wir wollen das respektieren.« Journalisten könnten es aber als Beweismittel anfordern. Nun kursiert es ohnehin.

Es war nicht der einzige Fall, in dem Aktivisten und Medien mit Kurdistan-Bezug in den letzten Wochen entscheiden mussten, wie sie Berichte über Verbrechen dieser Art bebildern. Der deutschsprachige Blog Lower Class Magazin schrieb am Mittwoch in einem längeren Artikel über das deutsche Verhältnis zum »sicheren Herkunftsstaat« Türkei: »In Varto wurde die Guerillakämpferin Ekin Van ermordet, geschändet und nackt im Stadtzentrum abgelegt. (Aus Respekt vor der Gefallenen hier anstelle des Originalbildes das einer Protestaktion in Stockholm)« Das Foto zeigt eine lebende Aktivistin mit roter Farbe beschmiert auf dem Bauch liegend.