Tiroler Tageszeitung, 07.10.2015

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Immer mehr kurdische Städte in der Türkei im Ausnahmezustand

Istanbul/Cizre (APA) - Die Türkei führt im Südosten des Landes Krieg. Mit Ausgangssperren und Verhaftungswellen versucht die Regierung die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Zivilbevölkerung wird zwischen den Fronten zerrieben. Beobachter aus dem In- und Ausland zeigen sich entsetzt über die Zustände.

Einen knappen Monat vor den angesetzten Neuwahlen in der Türkei dreht sich die Spirale der Gewalt im Südosten des Landes weiter. In den von den Ausgangssperren betroffenen Städten liefern sich vermummte und schwerbewaffnete Jugendliche mit den Sicherheitskräften Straßenkämpfe. Die Bilder unschuldiger Zivilisten, gefangen zwischen den Fronten, rütteln die türkische Zivilgesellschaft auf. Im Gegensatz zu den 90er-Jahren berichten regierungskritische Medien mittlerweile darüber.

Die islamisch-konservative AKP-Regierung wird der Schreckensbilder nicht mehr Herr, die sich über die Medien verbreiten. Angehörige der eigenen Partei sprechen bereits von schweren Menschenrechtsverletzungen in den abgeriegelten Städten. Es sind symbolträchtige Bilder wie das eines alten Mannes, der sich, geführt von seiner Frau und seiner Schwiegertochter, während der Ausgangssperre zum Krankenhaus durchzuschlagen versucht, die die Stimmung umschlagen lassen. Der Mann ist Dialysepatient. In der Hand hält eine der Frauen eine improvisierte weiße Fahne zum Schutz gegen Scharfschützen.

„Nichts rechtfertigt eine fünf Tage anhaltende Ausgangssperre, weder in Nusaybin noch in Cizre“, bekräftigte der AKP-Parlamentsabgeordnete der Provinz Mardin, Orhan Miroglu, gestern, Dienstag. Miroglu prangert Kräfte „außerhalb des Staates“ an, die in der Stadt Sirnak die Leichenschändung eines jungen mutmaßlichen PKK-Rebellen durchgeführt und gefilmt haben sollen. Aber entgegen anderslautender Regierungserklärungen werde es keine Untersuchung des Vorfalls geben, zeigt er sich überzeugt. Er betonte, dass „kein junger Mensch, unabhängig davon was er getan hat, einen solchen Menschenrechtsverstoß verdient.“

Die österreichische Grüne Nationalratsabgeordnete Berivan Aslan ist seit Sonntag gemeinsam mit einer europäischen Delegation aus Politikern, Friedensaktivisten und Journalisten in der Region, um sich ein Bild über die Vorkommnisse zu machen. Mit ihr reisen der Tiroler Grüner Klubobmann Gebi Mair und der Sprecher des Friedensforums und Grüne Stadtrat, Mesut Onay.

Sie zeigten sich nach einem Lokalaugenschein in den Städten Silvan, Cizre und Nusaybin schockiert über die Zerstörungen und die Folgen für die Zivilbevölkerung, wie sie der APA gegenüber erklärten. In der Stadt Cizre hätten Menschen neun Tage lang keinen Zugang zu lebensnotwendigen Nahrungsmitteln, Medikamenten oder sauberem Trinkwasser, schildert die Grünenpolitikerin Aslan. In Silvan sei eine 70-jährige Frau während der dortigen Ausgangssperre auf der Straße von Kugeln getroffen worden. Sie sei auf der Straße ohne medizinische Versorgung verblutet, habe man ihr berichtet. In Silvan soll es zudem zu Folterungen durch Sicherheitskräfte gekommen sein, erläutert sie.

„Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie ein autoritäres Staatsregime für die Zivilbevölkerung zur Gefahr wird“, warnte Aslan eindringlich. Die Flüchtlingskrise sei Folge der politischen Teilnahmslosigkeit und Duldung einer repressiven Staatsgewalt durch Europa, betont die Grüne Politikerin. Sie fordert die internationale Gemeinschaft auf, mehr Druck auf den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan auszuüben und die Staatsgewalt in den kurdischen Städten zu beenden. Durch weitere Teilnahmslosigkeit könnte die Lage auch in den anderen Städten noch mehr eskalieren, sagte Aslan.

Auslöser für die neuerliche Welle der Gewalt ist der Bruch der Waffenruhe mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Aufgrund der anhaltenden Bombardierungen ihrer Rückzugsgebiete im Nordirak hat die PKK damit gedroht, den Kampf in die Städte zu tragen.

Selbst der Oberbefehlshabers der türkischen Luftwaffe, Abidin Ünal, sprach am Dienstag nicht mehr von einem Konflikt, sondern von einem Krieg, der geführt wird. Er nannte es einen Zweifrontenkrieg gegen die PKK und gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Bisher wurden aber so gut wie alle Angriffe gegen PKK-Stellungen geflogen. Die türkische Luftwaffe hat seinen Angaben zufolge seit dem 23. Juli 2000 Bomben auf mehr als 1.200 Ziele, vor allem im angrenzenden Nordirak, dem traditionellen Rückzugsgebiet der kurdischen Rebellen, abgeworfen.

Seit Juli haben sich mindestens 15 kurdisch dominierte Distrikte als autonom erklärt. Bürgermeister der prokurdischen Partei HDP wurden daraufhin des Verfassungsbruchs beschuldigt und verhaftet. Die Jugendorganisation der PKK hat Barrikaden errichtet und die Polizei sowie Spezialeinheiten am Betreten der Städte zu hindern versucht.

Die HDP, im Südosten des Landes die stärkste Partei, macht die allein regierende islamisch-konservative AKP dafür verantwortlich, dass die zwei Jahre anhaltende Waffenruhe mit der PKK zerbrochen ist.

Ende Februar ist im Istanbuler Dolmabahce-Palast ein Zehn-Punkte-Programm für einen dauerhaften Frieden zwischen der PKK und der türkischen Regierung ausverhandelt worden. Die Verhandlungsführer der Regierung und der HDP gingen mit einer historischen Erklärung gemeinsam an die Öffentlichkeit. Staatspräsident Erdogan habe dieses Abkommen nicht gepasst und er habe es für null und nichtig erklärt, kritisiert die HDP. Die Friedensbotschaft hätte nicht zur Wahlkampfstrategie Erdogans gepasst.

Aber die Wahlstrategie Erdogans scheint nicht aufzugehen. Selbst in den eigenen Reihen wird die Kritik immer lauter. In den Umfragen verliert die AKP ständig an Stimmen. Bei der Wahl im November bahnt sich eine neuerliches Debakel für die Regierungspartei an.

Der Bezirkschef von Silvan, Abdülmenaf Manaz, war selbst tagelang in seiner Stadt eingeschlossen. Manaz, ein Vertreter der größten Oppositionspartei CHP, wütete gegenüber dem Sender RS FM. „Hier ist es schlimmer als in den 90er-Jahren. Wir leben in einem geschlossenen Gefängnis.“ Die Ausgangssperren würden nur der PKK den Rücken stärken. Wenn das so weiter gehe, würden 99 Prozent der Jugendlichen in die Berge gehen, erklärte er. „Wenn ich nicht alt wäre, würde ich selbst in die Berge gehen.“