Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/das-kalifat-der-raubritter-1.18626754

IS lebt vor allem von Enteignungen

Das Kalifat der Raubritter

Die Einkünfte der Terrormiliz IS sind weniger nachhaltig als gedacht – sie beruhen vor allem auf Enteignungen. Die Fluchtwelle nach Europa bereitet dem Kalifat zudem Probleme an der Propagandafront.

von Christian Weisflog

Die Stärke der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wurde bisher vor allem darin gesehen, dass sie sich selbst finanzieren kann und nicht auf ausländische Sponsoren angewiesen ist. Die Zahlen über die Einkünfte der Jihadisten beruhten allerdings vor allem auf Schätzungen. Nun hat der Terrorexperte Aymenn Jawad al-Tamimi im Internet Dokumente aus dem Finanzministerium der ostsyrischen IS-Provinz Deir al-Zur veröffentlicht.

Überschätzte Erdölgeschäfte

Die Haushaltzahlen von Mitte Dezember 2014 bis Mitte Januar 2015 zeigen, dass die grössten Einkommensquellen vermutlich weder das Erdölgeschäft noch Steuererhebungen sind. Der IS finanziert sich in Deir-al Zur laut den Statistiken fast zur Hälfte (45 Prozent) durch Enteignungen, zu 28 Prozent durch das Erdöl- und Gasgeschäft sowie zu 24 Prozent durch Steuern. Dies scheint umso bemerkenswerter, als die Region an der irakischen Grenze ein wichtiges Zentrum der syrischen Erdölindustrie ist.

Innerhalb eines Monats hat die IS-Verwaltung in der Region Deir al-Zur unter anderem 17 Häuser, 80 Autos, 36 Lastwagen und 1320 Schafe beschlagnahmt. Die Konfiszierung von Wohneigentum oder Waren könne unterschiedliche Gründe haben, schreibt Tamimi. Enteignet würden etwa Häuser und Wertsachen von geflohenen Personen oder solchen, die gegen Gesetze des Kalifats verstossen hätten. Aus der nordirakischen Stadt Mosul gibt es Berichte, dass es der IS insbesondere auf das Eigentum religiöser Minderheiten wie etwa der Christen abgesehen hat. Konfisziert wurden zudem auch die Löhne von Beamten , die immer noch Geld aus Bagdad erhielten.

Bekehrung oder Tod

Auch bei den Steuern dürfte es sich zudem oft nicht um Abgaben handeln, für die das Kalifat stets eine Gegenleistung erbringt. Wie andere IS-Dokumente zeigen, die Tamimi übersetzt hat, müssen Andersgläubige oder ehemalige Staatsangestellte wie etwa auch Lehrer ein Reuebekenntnis ablegen, um nicht als «Ungläubige» hingerichtet zu werden. Wer sein Bedauern gezeigt hat, erhält eine amtliche Beglaubigung. Für diesen Ausweis der Reue erhebt der IS aber offenbar stolze Preise: 2500 Dollar und 200 Dollar, um ihn zu erneuern.

In der Region Deir al-Zur beliefen sich die monatlichen Einnahmen des IS zu Beginn dieses Jahres insgesamt auf rund 8,5 Millionen Dollar, die täglichen Einkünfte aus dem Ölgeschäft in einem der wichtigsten Fördergebiete unter IS-Kontrolle betrugen lediglich 66'000 Dollar. Ein sehr bescheidener Betrag im Vergleich zu früheren Schätzungen, die davon ausgegangen waren, dass der IS mit dem Erdölgeschäft täglich 1 bis 3 Millionen Dollar verdient.

Vermutlich sind die Öleinnahmen der Terrormiliz seit Januar noch weiter zurückgegangen. Denn es fehlt dem Kalifat an Spezialisten und Technik, um die Förderleistung aufrechtzuerhalten. Zudem gelten die Luftangriffe der amerikanischen Allianz gegen den IS auch der Erdölinfrastruktur. Laut dem amerikanischen Verteidigungsministerium wurden bis im August knapp 200 betreffende Anlagen zerstört. Eine ausführliche Recherche der «Zeit» ist zum Schluss gekommen, dass die anfängliche Förderkapazität des Kalifats im Irak und in Syrien von 80'000 Barrel pro Tag bereits im vergangenen Dezember auf 20'000 gesunken war. Die Gesamteinnahmen beliefen sich demnach auf rund 300'000 Dollar.

Flucht in «das Land der Ungläubigen»

Diese Entwicklung bedeutet, dass die Finanzquellen der Terrormiliz keineswegs nachhaltig sind. Hinzu kommt, dass die irakische Regierung kürzlich die Zahlung von Beamtenlöhnen und Renten in Städten unter IS-Kontrolle eingestellt hat. Die Jihadisten haben aber offenbar nicht nur Geldsorgen, sondern auch ein Imageproblem. Zwar hält der Zustrom von ausländischen Kämpfern weiterhin an. Ihre Zahl soll sich im vergangenen Jahr auf 30'000 verdoppelt haben. Gleichzeitig machen sich aber Hunderttausende von syrischen und irakischen Flüchtlingen nicht auf den Weg in das gelobte Kalifat, sondern versuchen unter Lebensgefahr nach Europa zu gelangen – in «das Land der Ungläubigen».

Der Propagandaapparat des IS hat deshalb eine ganze Reihe von Videos veröffentlicht, in denen die Terrormiliz vor einer Flucht in den Westen abrät. Die Jihadisten bezeichnen die Emigration nach Europa als «grosse Sünde» und warnen vor den «Täuschungen der Kreuzfahrer». In den Videos werden immer wieder wüste Bilder von Flüchtlingen gezeigt, die auf ihrer Flucht von europäischen Polizisten geschlagen oder in Lager gepfercht werden. Auch die Foto des toten Flüchtlingskindes Aylan Kurdi an einem türkischen Strand wird missbraucht, um den Westen zu verteufeln und die Vorzüge des Kalifats zu preisen.

Ärzte unter Aufsicht

Ob diese Propaganda wirklich nützen wird, ist mehr als fraglich. Das Kalifat ist attraktiv für kampflustige Jihadisten, aber weniger für gut ausgebildete Fachkräfte. In Mosul habe der IS eine Aufsichtsbehörde errichtet, welche Ärzte überwachen und notfalls an einer Flucht hindern soll, berichtet das « Wall Street Journal». Wenn sich ein Doktor bei der Arbeit mehr als einen Tag krank melde, bekomme er Besuch von bewaffneten IS-Kämpfern. Eine Flucht sei nur noch möglich unter Lebensgefahr für die ganze Familie, berichtet ein Arzt aus Mosul.

Ob die begrenzten Geldquellen und der Mangel an Fachkräften früher oder später zum Untergang des IS führen werden, muss sich allerdings noch zeigen. Der anhaltende Zustrom von Jihadisten und der Verlust der gebildeten Mittelschicht könnte auch bedeuten, dass die Gesellschaft insgesamt homogener und islamistischer wird.