welt.de, 10.10.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article147440394/186-Verletzte-und-fast-hundert-Tote-nach-Anschlag.html

Terror in Ankara

186 Verletzte und fast hundert Tote nach Anschlag

Die Opferzahl nach dem Attentat auf eine Friedenskundgebung steigt dramatisch an: Mindestens 86 Menschen sind gestorben, 186 wurden verletzt. Präsident Erdogan nennt es einen "abscheulichen Angriff".
Der Moment der Explosion, festgehalten von einem Amateurfilmer
Foto: AFP Der Moment der Explosion, festgehalten von einem Amateurfilmer

Bei den beiden Anschlägen in der türkischen Hauptstadt Ankara sind nach Regierungsangaben deutlich mehr Menschen getötet worden als zunächst angenommen. Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoglu teilte am Samstag mit, es seien 86 Menschen um Leben gekommen. Fast 190 Menschen seien verletzt worden, 28 von ihnen schwer. Zunächst war von 30 Toten und fast 130 Verletzten die Rede gewesen.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) erklärte: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannt.

"Wir vermuten, dass es eine terroristische Verbindung gibt", sagte ein Regierungsvertreter zuvor der Nachrichtenagentur AFP. Zwei Insider sagten der Nachrichtenagentur Reuters, die Behörden gingen Berichten über einen Selbstmordanschlag nach. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (Link: http://www.welt.de/themen/ahmet-davutoglu/) kündigte an, den laufenden Wahlkampf für drei Tage auszusetzen. In der Türkei sind für den 1. November Neuwahlen für das Parlament angesetzt.

Laut Innenministerium war es um 10.04 Uhr Ortszeit (9.04 MESZ) vor dem Hauptbahnhof in Ankara (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) zu mindestens zwei Explosionen gekommen. Teilnehmer der Demonstration waren dazu aufgerufen gewesen, sich ab 10 Uhr am Bahnhof zu versammeln. Die Demonstration sollte um 12 Uhr beginnen.

Leichen mit Friedensflaggen abgedeckt

Ein Reuters-Reporter sah am Anschlagsort Dutzende Leichen, die mit Transparenten und Fahnen abgedeckt waren. Darunter waren Banner der oppositionellen prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP). Die Toten lagen in zwei etwa 20 Meter voreinander entfernten Kreisen – dort, wo die Sprengsätze explodiert waren. Einige Teilnehmer des Friedensmarsches versorgten Verletzte, während Hunderte Menschen offenbar unter Schock durch die Straßen liefen.

"Eine Demonstration, die Frieden fördern sollte, ist zu einem Blutbad geworden", sagte tränenüberströmt der 52-jährige Ahmet Onen, der mit seiner Frau zu dem geplanten Protestmarsch gekommen war. Andere Demonstranten reagierten wütend, die Polizei trieb sie mit Schüssen in die Luft auseinander.

Nach dem Anschlag ging die Polizei gegen wütende Demonstranten vor. Polizisten schossen in die Luft, um protestierende Demonstranten auseinanderzutreiben, wie ein AFP-Reporter berichtete. Wütende Demonstranten riefen "Polizei, Mörder!", bevor sie von der Polizei vertrieben wurden.

PKK fordert "Zeit der Inaktivität"

Zu der Kundgebung hatte die Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten KESK aufgerufen. "Es gab ein Massaker mitten in Ankara", sagte Gewerkschaftschef Lami Özgen. "Zwei Bomben sind in sehr kurzem Abstand explodiert." Thema der Kundgebung war der Konflikt zwischen Regierungstruppen und Kurden (Link: http://www.welt.de/themen/kurden/) im Südosten der Türkei (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) .

Der Co-Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, sprach von einem "barbarischen Angriff". Demirtas sagte nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA, es habe sich um ein "großes Massaker" gehandelt. Demirtas teilte auf Twitter mit: "Diejenigen, die Frieden wollen, werden ermordet."

Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (Link: http://www.welt.de/themen/pkk/) kündigte am Mittag an, ihre Angriffe vor der Parlamentswahl in der Türkei auszusetzen. Nach "Appellen aus der Türkei und dem Ausland" habe die Bewegung eine "Zeit der Inaktivität" beschlossen, hieß es in einer veröffentlichten Erklärung der PKK-Dachorganisation Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK). In der Türkei war in den vergangenen Monaten der Konflikt zwischen der Regierung und den kurdischen Rebellen wieder eskaliert, bei PKK-Anschlägen wurden zahlreiche türkische Polizisten und Soldaten getötet.

Auswärtiges Amt warnt vor weiteren Anschlägen

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verurteilte den Anschlag (Link: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2015/151010_AM_Steinmeier_zum_Bombenanschlag_Ankara.html) ebenfalls scharf. Der "brutale Terroranschlag auf friedliche Demonstranten" sei zugleich ein Angriff auf den demokratischen Prozess in der Türkei, erklärte Steinmeier. Den Tätern gehe es offensichtlich darum, im Vorfeld der Parlamentswahl "ein Klima der Angst und Einschüchterung zu verbreiten und Hass und Zwietracht zu schüren". Dies dürfe nicht gelingen. Er vertraue darauf, dass die "in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelten Kräfte der Demokratie auch diesen Angriff überstehen".

Das Auswärtige Amt verschärfte nach dem Anschlag seine Reisehinweise für die Türkei. Die Innenstadt von Ankara und größere Menschenansammlungen sollten gemieden werden. "Landesweit ist mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen, weitere Anschläge oder gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht ausgeschlossen", hieß es.
AFP/AP/dpa/Reuters/ott