Telepolis, 10.10.2015

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/46/46214/1.html

Syrien: Russland und die Kurden

Elke Dangeleit 10.10.2015

Ein neuer Partner für die YPG/YPJ in Rojava?

Die Beteiligung Russlands an der Anti-IS-Koalition hat auch Auswirkungen auf Rojava, das kurdische Autonomiegebiet in Nordsyrien. Russlands Beziehungen zum Assad-Regime könnte eine Chance sein, eine Übergangslösung für den Abgang des Assad-Regimes zu finden, hin zu einem demokratischen System unter Beteiligung aller religiösen und ethnischen Minderheiten - wenn die westliche Welt Russland als Partner in der Anti-IS-Koalition akzeptiert.

Mittlerweile hat auch der Westen verstanden, dass es nicht ohne Einbeziehung des Assad-Regimes geht, den IS zu bekämpfen und Syrien zu stabilisieren. Dabei könnte Russland eine wichtige Rolle spielen, da es seit jeher über gute Kontakte zu Assad verfügt. Eine Rückkehr Assads zum Status vor 2011 ist extrem unwahrscheinlich. Das wäre mit der syrischen Bevölkerung, so zerrissen sie auch sein mag, nicht möglich. Putin hat in verschiedenen Statements gesagt, er könne sich vorstellen, dass Assad sich auf eine Übergangslösung einlassen könnte. Da wäre Putin ein wichtiger Verhandlungspartner.

Dies ist auch eine Chance für Rojava, dessen Vertreter sich explizit für ein Verbleiben Rojavas in einem föderal und demokratisch organisierten Syrien ausgesprochen haben. Sie wollen den bisher im Nahen Osten üblichen Despotismus durch ein demokratisches Konföderalismusmodell ersetzen (vgl. Das Modell Rojava[1]). Dieses Modell findet auch in anderen Teilen Syriens immer mehr Anhänger. Sinam Mohamad, die Internationale Vertreterin der autonomen demokratischen Administration von Rojava, berichtete in einem Interview mit Telepolis1, dass es mittlerweile auch Kontakte zu Drusen und anderen Minderheiten gäbe, die ähnliche Modelle für ihre Regionen anstreben.

Wie sieht es nun mit dem Verhältnis Russlands zu Rojava aus?

In einer Rede Putins vor der 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende September (Putin fordert Zusammenarbeit gegen den IS - mit Assad[2]) führte er aus, dass die Kurden in Syrien eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS spielen. Und dass endlich anerkannt werden sollte, dass Assad und die Kurden in Syrien "wichtig und tapfer"[3] im Kampf gegen den islamischen Staat und anderen Terrororganisationen seien. Inwieweit Russland aber, wie die USA, versucht, Rojava für seine Interessen zu instrumentalisieren, muss beobachtet werden.
Bild YPG/YPJ[1]

Von kurdischer Seite hat sich der PYD-Vorsitzende Salih Muslim kürzlich in einem Interview[4] positiv über die Rolle Russlands geäußert. Es gab demnach schon länger auch Kontakte mit Russland - Salih Muslim war mehrmals zu Gesprächen in Moskau. Unbestätigten Berichten zu Folge gibt es wohl auch nun das Angebot Russlands, in Moskau eine 'Ständige Vertretung von Rojava' einzurichten.

Das wäre ein wichtiger Schritt hin zur internationalen Anerkennung der Administration von Rojava - was die westlichen Staaten nach wie vor umgehen, es gibt zwar diplomatische Gespräche mit den Vertretern von Rojava, aber nicht auf Augenhöhe. Durch den Eintritt Russlands in die Anti-IS-Koalition versprechen sich die Repräsentanten von Rojava, dass damit die Interventionspläne der Türkei, eine 'Sicherheitszone', sprich eine türkisch kontrollierte Zone zwischen den Kantonen Afrin und Kobane zu schaffen, vom Tisch sind.

Salih Muslims Meinung nach werden sich die Russen nicht im Norden einmischen, es sei denn, die Türkei versuche einzugreifen. Sie werden eine türkische Intervention verhindern und die Grenze Syriens zur Türkei verteidigen, nicht uns Kurden, so Salih Muslim. Schließlich sei dies eine NATO-Grenze, die Türkei könne nicht ohne die Zustimmung der Großmächte eingreifen, so ein russischer Offizieller im Gespräch mit Salih Muslim vor 2 Jahren.

Erdogans "Kurdophobie"

Der Türkei geht es mit der "Sicherheitszone" vor allem darum, zu verhindern, dass die Kurden die Grenze zwischen Syrien und der Türkei kontrollieren. Dazu sagt Sinam Mohamad, die Rojava Vertreterin im Gespräch mit Telepolis, dass Erdogan unter einer "Kurdophobie" leide. Dies verhindere einen Friedensprozess in der Türkei und durch den Krieg gegen die Kurden im Südosten der Türkei würde er sein eigenes, aber auch das Grab der Türkei schaufeln, weil er international mit seinen Allmachtsplänen im Abseits landen würde. Das zeige auch die Debatte um die sogenannte "Sicherheitszone", die keine Option für die westlichen Staaten sei, auch für die USA sei dies keine Diskussion.

Es ist auch sehr fragwürdig, für wen diese Sicherheitszone eingerichtet werden sein. Ginge es nach der Türkei, sollen in dieser Flüchtlingslager platziert werden. Hintergedanke dabei ist, die Demographie dieser Region zuungunsten der kurdischen Bevölkerung zu verändern. Im Moment ist dieses Gebiet unter der Kontrolle der islamistischen Terrorgruppe Al-Nusra. Hier liegt auch der letzte dem IS verbliebene Grenzübergang zur Türkei, der enorm wichtig für den Nachschub an Kämpfern und Waffen für den IS ist.

Sinam Mohamad ist sich sicher, dass die USA die YPG/YPJ mit Luftschlägen auch bei der Vertreibung des IS und Al-Nusra in Jarabulus unterstützen wird, sollten die Einheiten aus Rojava dahin vordringen.

Es sieht so aus, als ob sie Recht behält: die YPG/YPJ bekommt in diesen Tagen Rückendeckung sowohl von den USA als auch von Russland.

Kooperation zwischen Russland und den USA möglich?

In verschiedenen Presseverlautbarungen hat Obama verkündet, dass er zwar die Einmischung Russlands aus verschiedenen Gründen (Stärkung des Assad-Regimes, Schwächung der Anti-IS-Koalition) für falsch hält, aber den Russen nicht in die Quere kommen will[5].

De facto sieht es aber in Nordsyrien so aus, als ob es eine unter dem Tisch vereinbarte roadmap zwischen den USA und Russland gebe: Während Russland die IS/Al-Nusra kontrollierten Gebiete bei Dar Izza südlich von Afrin mit Luftschlägen attackierte, was für die YPG/YPJ aus Afrin Möglichkeiten eröffnet, Gebietsgewinne Richtung Kobane zu machen, flog die USA Angriffe auf die letzte Islamisten-Bastion im Norden mit direkter Verbindung zur Türkei, Jarabulus, wo die YPG/YPJ mit den verbündeten FSA-Einheiten von Kobane Richtung Afrin vordringen.
Bild YPG/YPJ[1]

Diese Offensive wurde von Rojava vor kurzem angekündigt. Man kann also davon ausgehen, dass es längst koordinierte Pläne mit der Anti-IS-Koalition, Russland und Rojava gab, jenseits des machtpolitischem Geplänkels der jeweiligen Regierungen.

Sollte es gelingen, eine Verbindung zwischen Afrin und Kobane herzustellen, wäre der Norden Syriens komplett unter der Kontrolle von der Selbstverwaltung von Rojava, d.h. unter der Kontrolle eines Modellprojektes, welches demokratische Strukturen in einem zentralistischem Vielvölkerstaat zu etablieren versucht.

Dies würde wiederum das syrische Zentralregime unter Druck setzen, Rojava anzuerkennen, hätte es ein ernsthaftes Interesse daran, den Krieg in Syrien zu beenden. An dieser Stelle bekommt Russland eine besondere Rolle im Machtpoker: Gelingt es Putin, Assad und seinen alawitischen Clan zu überzeugen, mit einer Übergangsregierung den Abgang friedlich zu organisieren und sich am Aufbau eines demokratischen, konföderalen Syrien zu beteiligen, hätte er mal wieder die heißen Kartoffeln aus dem Feuer geholt - vorausgesetzt, das wäre im Interesse Russlands, was wünschenswert wäre.

Aber über die geopolitischen Interessen Russlands und der USA lässt sich gegenwärtig nur spekulieren. Auch Salih Muslim äußert sich diesbezüglich besorgt: In dem türkischsprachigen Internetportal BestaNuce spricht er in einem Interview von der Verunsicherung der Kurden, ob Russland nicht nur im Blick habe, das Assad-Regime zu stützen und die Kurden von Rojava lediglich nur ein Spielball seien.

"Wir werden selbst darüber entscheiden, wann Assad gehen muss"

Der Erzbischof Jacques Behnan Hindo von der Eparchie Hassakè-Nisibi aus Hassakè findet dazu deutliche Worte[6], die dem Westen zu denken geben sollten:

Der US-amerikanische Senator John McCain beklagt, dass die russische Luftwaffe nicht die Stellungen des Islamischen Staates, sondern die von der CIA ausgebildeten Rebellen angreift. Dies finde ich äußerst beunruhigend, denn damit gesteht er ein, dass sich hinter dem Krieg gegen Assad auch die CIA verbirgt und es sich um einen Stellvertreterkrieg von Mächten handelt, die zusammen mit ihren Verbündeten in der Region gegen Syrien kämpfen.

Die westliche Propaganda redet weiterhin von gemäßigten Rebellen, doch die gibt es nicht: In der Galaxie der bewaffneten Gruppen sind die Soldaten der Syrischen Befreiungsarmee nur mit einer Lupe zu finden. Alle anderen, abgesehen vom IS, haben sich in der Al-Nusra-Front zusammengeschlossen, ein Ableger der Al Kaida in Syrien.

Dies alles ist sehr beunruhigend: diese Supermacht protestiert 14 Jahre nach dem 11. September, weil die Russen die Milizen der Al Kaida in Syrien bombardieren. Was bedeutet das? Dass Al-Kaida sich nun mit den USA verbündet hat, nur weil sie in Syrien anders heißt? Glauben sie wirklich, dass wir so wenig Intelligenz und Erinnerungsvermögen besitzen?

Wir werden selbst darüber entscheiden, wann Assad gehen muss und nicht der IS oder der Westen. Und eines ist gewiss: wenn Assad jetzt geht, dann endet Syrien wie Libyen.

Sinam Mohamad, die internationale Vertreterin der autonomen demokratischen Administration von Rojava spricht sich denn auch nicht explizit gegen Verhandlungen für ein gemeinsames Vorgehen mit der Assad-Regierung aus. Voraussetzung wäre, dass auch die verschiedenen, nicht islamistischen Oppositionsgruppen mit von der Partie wären. Eine Lösung für Syrien ginge nicht ohne die Beteiligung aller ethnischen und religiösen Gruppen.

Auch müssten die autonomen Gebiete Rojavas international wie auch von der syrischen Regierung anerkannt werden. Assad selbst sprach[7] in einem Interview auf Rudaw davon, er sei offen für alle Vorschläge, solange die territoriale Integrität des Landes intakt bleibt, wobei er aber weiterhin auf Distanz zur PYD bleibt.

Erdogan ist kein ernstzunehmender Verhandlungspartner

Das Interesse der USA ist nach wie vor sehr undurchsichtig, was auch den gegenwärtigen Machtkämpfen im Weißen Haus geschuldet sein dürfte. Einerseits gibt es erklärtermaßen kein strategisches Interesse der USA an Rojava, andererseits kommen die USA nicht ohne Gesichtsverlust an Rojava vorbei, angesichts des weltweiten Interesses und der Medienpräsenz vor Ort.

Und sie haben keinen verlässlichen Partner gegen den IS außer die YPG/YPJ und deren verbündete Milizen, die zum Teil aus der Freien Syrischen Armee (FSA) kommen. Aber auch sie sind keine homogene Gruppe: Im Norden operieren sie mit der YPG/YPJ gegen den IS und Al Nusra, in anderen Gebieten Syriens bekämpfen sie das Assad Regime.
Bild YPG/YPJ[1]

Die Türkei scheint in dieser Frage keine Rolle mehr zu spielen mit Erdogans neoosmanischen Großmachtsphantasien. Hier geht es nur noch um kleine Diplomatie: Wie lange können die westlichen Staaten den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei ausblenden? Wer geht den ersten Schritt, Erdogans Allmachtsphantasien ein Ende zu setzen und ihm beizubringen, dass er im Prinzip aus dem Spiel ist? Im großen Spiel um eine Lösung des Syrienkrieges hat die Türkei jedenfalls längst verspielt - weshalb Erdogan auch im eigenen Land gegen seinen Untergang mit allen Mitteln kämpft.

Die Frage ist: Wann wird unsere Bundesregierung endlich begreifen, dass Erdogan kein ernstzunehmender Verhandlungspartner ist, sondern ein narzistisch gestörter Despot, der ums Überleben kämpft mit allen Mitteln und der diesen Konflikt auch nach Deutschland trägt?

Eine Chance, ihn in die Grenzen zu verweisen wurde gerade verspielt: Dadurch, dass Erdogan in Brüssel gerade versprochen hat, 2 Millionen Flüchtlinge von Europa fernzuhalten und in eigenen Flüchtlingslagern unterzubringen, hat er einen cleveren Schachzug gemacht: Gerade mal ca. 400. 000 Flüchtlinge leben in den staatlichen Flüchtlingslagern[8], die von der Regierung islamistisch ausgerichtet sind mit subtilen Mitteln wie islamischen Unterricht von Kindern.

Die Mehrheit der Flüchtlingscamps in der Türkei, vor allem im Südosten, wird von der HDP und den kurdischen Kommunalverwaltungen organisiert - in Selbstverwaltung mit der ansässigen Bevölkerung - die mittlerweile massiven Repressionen ausgesetzt sind. Zahlreiche Bürgermeister sind mittlerweile inhaftiert worden, um diese Strukturen zu zerstören. Besonders brisant: Wie die EU möchte auch Erdogan, dass die Türkei als sicheres Herkunftsland eingestuft wird.

Das heißt nämlich im Klartext, dass auch politisch verfolgte Kurden oder Aktivisten in der Türkei keine Chance hätten, in Deutschland um politisches Asyl zu bitten. Und um die Flüchtlinge aus Deutschland fernzuhalten, wird mal wieder ein Auge zugedrückt, was Erdogan gerade mit der kurdischen Bevölkerung im kurdischen Teil der Türkei anrichtet.

In Sirnak wurde am vergangenen Wochenende ein Filmemacher durch mehrere Kugeln von der Polizei hingerichtet und anschließend mit einem Polizeiwagen am Seil durch die Stadt gefahren[9]. Die türkische Regierung erklärte dazu, es hätte sich dabei um eine 'Sicherheitsmaßnahme' gehandelt, die Leiche hätte ja eine Sprengfalle sein können.

Nun kann sich jeder fragen: Wie soll ein Mensch, der vom türkischen Militär selbst erschossen wurde und dann angebunden wurde an ein Fahrzeug sich selbst als Sprengfalle präpariert haben, ohne dass sie losgeht? Das sind übrigens die Praktiken des IS, Leichen als Sprengfallen zu präparieren.

Anhang

Fußnoten
1)

am 21.9.2015

Links
[1]

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43031/
[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/46/46122/
[3]

http://rudaw.net/english/world/290920151
[4]

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2015/10/turkey-syria-russia-pyd-leader-muslim-moscow-prevent-ankara.html
[5]

https://www.washingtonpost.com/world/national-security/2015/10/02/44c1f7fc-6932-11e5-9223-70cb36460919_story.html?postshare=8251443913230381
[6]

http://www.fides.org/de/news/36905-ASIEN_SYRIEN_Erzbischof_Hindo_bezeichnet_Protest_des_US_Senators_McCain_als_aeusserst_beunruhigend#.VhT8hTNUDq4
[7]

http://rudaw.net/english/middleeast/syria/160920151
[8]

http://www.welt.de/politik/article147245850/Erdogan-will-Hilfe-der-EU-im-Kampf-gegen-Kurden.html
[9]

http://m.welt.de/politik/ausland/article147244689/Foto-von-Leiche-an-Polizeiauto-schockt-die-Tuerkei.html