zeit.de, 10.10.2015

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Anschlag in Ankara: Zerrissen war die Türkei schon vorher

Die Hintergründe des Anschlags in Ankara sind noch völlig unklar. Doch die Wut ist groß, und sie richtet sich gegen die Regierung.

Von Özlem Topçu, Istanbul

Während diese Zeilen geschrieben werden, gleicht die zentrale Istiklal-Straße in Downtown Istanbul einem Meer von Menschen. Sie demonstrieren, rufen Slogans wie "Mörder Erdoğan" oder "Schulter an Schulter – gegen den Faschismus". Und viele von ihnen tragen Plakate, auf denen die Namen von drei türkischen Städten stehen: Diyarbakır, Suruç – und Ankara.

In allen drei Städten gab es in den vergangenen Wochen und Monaten Anschläge, sehr viele Menschen starben. Diyarbakır, oder besser gesagt: eine Abschlusskundgebung der prokurdischen Partei HDP, traf es am 5. Juni, zwei Tage vor der Parlamentswahl. Suruç wurde am 20. Juni heimgesucht. In der Kleinstadt an der syrisch-türkischen Grenze, direkt gegenüber der im vergangenen Jahr hart umkämpften Stadt Kobanê, wurden 31 Anhänger einer sozialistischen Jugendorganisation durch einen Selbstmordanschlag getötet. Sie waren auf dem Weg nach Kobanê, um beim Wiederaufbau der Stadt zu helfen. Alles junge Menschen. Und nun kommt ein drittes Datum hinzu.

Der 10. Oktober wird an einen der schwersten Terroranschläge der jüngeren türkischen Geschichte erinnern – in der türkischen Hauptstadt, dem Herzen der Republik, drei Wochen vor der neu anberaumten Parlamentswahl am 1. November. Unter der Führung linker zivilgesellschaftlicher Gruppen und Gewerkschaften hatten sich in Ankara Menschen in der Nähe des Hauptbahnhofs versammelt, um für Frieden und gegen die nun seit Wochen andauernden Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK zu protestieren. Dann, etwa gegen 10 Uhr, sollen sich die beiden Explosionen ereignet haben. Ein Video der "Bürgerreporter-Agentur" Dokuz8 will den Moment eingefangen haben: Man sieht tanzende Demonstranten, dann plötzlich die Explosion im Hintergrund. Laut offiziellen Angaben starben 95 Menschen, mehr als 200 sind verletzt.
Den Kampf in die Städte verlagert

Dieser erneute Anschlag gegen eine Versammlung von zumeist linken und kurdischen Gruppen trifft das Land in einer politisch hochsensiblen Zeit. Das Land kommt seit der Parlamentswahl am 7. Juni nicht zur Ruhe. Seit Ende Juni liefern sich staatliche Sicherheitskräfte und die PKK teils heftige Kämpfe, die sich, anders als zur Hochzeit der Kämpfe in den neunziger Jahren, von ländlichen Gebieten im Südosten des Landes, auf die Städte verlagert haben. Das führte dazu, dass die Regierung in vielen Provinzen im Südosten Gebiete zu "Sicherheitszonen" erklärte und Ausgangssperren verhängte – teilweise bis zu einer Woche, wie in Cizre in der Provinz Şırnak. Dort konnte man beobachten, wie sehr die Zivilbevölkerung unter den Konsequenzen der Kämpfe litt. Kaum ein Tag vergeht seitdem ohne die Bilder von Särgen gefallener Soldaten, die eingewickelt in die türkische Flagge in Trauermärschen zu Grabe getragen werden. Die Gefallenen der anderen Seite sieht man normalerweise nicht.

Das änderte sich in der vergangenen Woche, als Foto und Video eines getöteten Guerilla-Kämpfers in den sozialen Medien verbreitet wurde, wahrscheinlich der vorerst letzte Höhepunkt der Gewalt und Barbarbei: Mutmaßlich Sicherheitskräfte haben die Leiche des Mannes mit einem Seil am Hals hinten an ein gepanzertes Fahrzeug gebunden und durch die Stadt Şırnak geschleift. Das Bild schockierte das ganze Land, Premierminister Ahmet Davutoğlu verurteilte die Leichenschändung und ordnete eine Untersuchung an. In den vergangenen Wochen wurde dieser seit 30 Jahren währende Kampf, den gerade die Regierungspartei AKP von Staatspräsident Tayyip Erdoğan in einem Akt realpolitischer Klarsicht militärisch für nicht lösbar erklärte und deshalb einen politischen "Lösungsprozess" mit der PKK einleitete, auch einer zwischen Bürgern türkischer und kurdischer Herkunft.

Nachdem die PKK (die übrigens auch nicht scheute, hier und da mal einen Arzt oder andere Zivilisten zu erschießen oder festzusetzen) in Dağlica (Provinz Hakkari) bei einem Anschlag 16 Soldaten tötete, wurden in vielen Städten Kurden attackiert, etwa Saisonarbeiter, Geschäfte von Kurden und mehr als 100 Parteibüros der HDP. Es fällt schwer, an unorganisierte oder zufällige Aktionen zu glauben. Der bekannte Journalist Cengiz Çandar nannte diese Ereignisse Anfang September die "Kristallnacht" der Türkei.
Seht nur, was dann passiert ist ...

Der Lösungsprozess liegt seit geraumer Zeit auf Eis – seit wann, und aus welchem Grund genau, darüber haben beide Seiten natürlich ihre eigene Erklärung und Chronologie. Für die Partnerin auf kurdischer Seite bei diesem Prozess, die HDP, war Stopp seit Staatspräsident Erdoğan im April plötzlich sagte, dass er gar kein Kurdenproblem in der Türkei sehe; für die AKP war vorerst das Ende erreicht, als zwei Polizisten nach dem Anschlag von Suruç im Schlaf durch Genickschuss hingerichtete wurden – von PKK-nahen Militanten.

Von Anfang an war dieser unruhige Zustand des Landes verbunden mit einer Konkurrenz zwischen diesen beiden politischen Seiten. Sie stehen für zwei unterschiedliche Erzählungen über den Ausgang der Parlamentswahl. Das Lager der HDP und der Opposition sagt: Nachdem die AKP bei der regulären Parlamentswahl die absolute Mehrheit verlor und eine Koalition eingehen musste, provozierte Staatspräsident Erdoğan die Neuwahl, indem er im Hintergrund (als Präsident muss er neutral sein) entsprechende Gespräche mit den anderen Parteien torpedierte; schließlich hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass er nach der Wahl die Einführung eines Präsidialsystems erhoffte, wofür allerdings seine AKP die absolute Mehrheit brauchte. Dem Wähler wird jetzt quasi die Möglichkeit gegeben, seinen "Fehler" zu korrigieren. Der erstmalige Einzug der HDP ist der Grund dafür, dass die AKP nicht mehr allein regiert.

Die AKP-Sicht ist: Die HDP ist enger mit der PKK verbunden als sie zugibt; sie ist der verlängerte Arm der Terrororganisation. Die Gewaltspirale dreht sich nur, weil die Partei es geschafft hat, die Zehnprozenthürde zu nehmen. Seht nur, was dann passiert ist, das Land wird zerrissen.
Die Gewalt hat keiner Partei etwas gebracht

Die These, dass eine Neuwahl und die Eskalation der Gewalt der AKP (auch als Hüterin der nationalen Ordnung und Sicherheit) wieder mehr Stimmen einbringt, erweist sich nicht als plausibel. Die meisten Meinungsforschungsinstitute zeigen an, dass der Wahlausgang in etwa gleich bleiben wird. Die Gewalt hat keiner Partei "etwas gebracht" – oder "geschadet". Es wird quasi eine Reset-Wahl. Es gibt Spekulationen darüber, dass die AKP die Wahl am 1. November verschieben wolle. Um, wie zurzeit der Fall, allein in einer Übergangsregierung die Geschicke des Landes zu steuern.

In der Verfassung ist so eine Möglichkeit tatsächlich vorgesehen, im Falle eines Krieges etwa kann eine Wahl bis zu einem Jahr verschoben werden. Aber die verfassungsrechtlichen Hürden dafür sind hoch, außerdem ist damit ein Krieg zwischen zwei Staaten gemeint – also zwischen der Türkei und einem anderen Staat. Dieser Fall liegt nicht vor. Unklar ist allerdings, wie dehnbar die Verfassung an dieser Stelle ist.

Noch sind die Hintergründe des Ankaraner Anschlags unklar. In ersten Einschätzungen gehen die Sicherheitsbehörden von einem Selbstmordanschlag aus. Möglich, dass der "Islamische Staat" dahinter steckt, den die Türkei nun als Feind sieht, seit sie Teil der von den USA geführten Anti-IS-Koalition ist. Weniger plausibel scheint es derzeit, dass die PKK dahinter steckt. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass sie an diesem Sonntag einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen wollte. Warum also sollte sie ihre Energie darauf verwenden, einen Anschlag auf eine Friedensdemo von Regierungsgegnern zu verüben? Auf der auch Abgeordnete der prokurdischen HDP sind? Die im Übrigen auch allein mit den Stimmen der kurdischen Wähler die Zehnprozenthürde schafft. Andererseits: Viele Aktionen der PKK der jüngsten Vergangenheit haben diesem zivilen politischen Arm der Kurdenbewegung geschadet. Den Waffenstillstand hat sie nun immerhin verkündet. Kurz nach dem Anschlag in Ankara.

Die Regierung hat, anders als nach dem Anschlag von Suruç, drei Tage Staatstrauer angeordnet.