Neue Zürcher Zeitung, 11.10.2015

http://www.nzz.ch/international/trauer-und-wut-in-der-tuerkei-1.18628262

Anschlag von Ankara

Trauer und Wut in der Türkei

Der Terroranschlag auf Friedensaktivisten und Kurden vertieft die politischen Gräben in der Türkei. Besonnene Stimmen sind keine auszumachen; stattdessen dominieren Schuldzuweisungen.

von Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Die Türkei trauert. Viele Zeitungen erschienen am Sonntag mit schwarz unterlegten Titelseiten. Im ganzen Land wehen die Flaggen auf halbmast, und Tausende zogen aus Protest gegen den blutigen Samstag durch die Strassen Ankaras. Doch nicht einmal das Trauern verläuft in der Türkei spannungsfrei. Als eine Delegation kurdischer Politiker und Gewerkschafter am Ort des Blutbades Blumen niederlegen wollte, schritt nach Aussagen Beteiligter die Bereitschaftspolizei ein. Dabei soll es Verletzte gegeben haben. Beim Doppelanschlag auf einen Friedensmarsch sind am Samstag mindestens 95 Personen getötet und 246 weitere verwundet worden, 48 von ihnen besonders schwer. Zu der Kundgebung vor dem Hauptbahnhof hatten sich in der türkischen Metropole rund 14 000 Personen versammelt.

Breitseiten statt Geschlossenheit

Der Anführer der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, bezeichnete das Attentat als Angriff des Staates auf das Volk. Ob es möglich sei, dass die mächtigen Geheimdienste nichts von dieser barbarischen Attacke gewusst hätten, fragte Demirtas rhetorisch und wagte sich mit dieser Aussage, nur wenige Stunden nach dem schwersten Terroranschlag in der Geschichte des Landes, sehr weit vor. Regierungsvertreter wiesen die Anschuldigungen als ungeheuerlich zurück. Demirtas' voreilige Schuldzuweisung mag sich aus der Betroffenheit erklären: Bei den Detonationen wurden zahlreiche Anhänger sowie zwei Kandidaten der HDP getötet. Das Fernsehen zeigte Bilder von Leichen, die behelfsmässig mit Fahnen der prokurdischen Partei bedeckt waren.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan liess derweil Taktgefühl und staatsmännische Grösse vermissen. Er verurteilte zwar den «abscheulichen Angriff auf die Einheit des Landes». Gleichzeitig zog er jedoch über jene her, die im Fall von Terrorismus mit unterschiedlichen Ellen mässen. Diese Breitseite galt unzweideutig der HDP, welche Erdogan als Steigbügelhalter der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) diffamiert. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu will sich mit verschiedenen Parteien über das Problem der terroristischen Bedrohung austauschen. Nicht dazu eingeladen wird indes die HDP, die Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei der Wahl vom Juni die absolute Mehrheit verunmöglicht hatte.

Überlagert wird die Trauer und Bestürzung unübersehbar von Wut, die sich gegen die unbekannte Täterschaft ebenso richtet wie gegen die türkische Regierung. Am Gedenkmarsch in Ankara wurde Erdogan als Mörder beschimpft. Andere riefen die PKK dazu auf, Rache zu üben. Angehörige der Opfer misstrauen den Behörden zutiefst und glauben nicht an eine schonungslose Aufklärung des Verbrechens.

Bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Monate sind prokurdische Aktivisten Ziel eines Anschlages geworden: Im Juni explodierte in Diyarbakir eine Bombe bei einer Wahlveranstaltung der HDP, im Juli riss ein Selbstmordattentäter in Suruc an der türkisch-syrischen Grenze 33 Personen in den Tod. Sie waren auf dem Weg nach Kobane, jener Stadt, die kurdische Kämpfer von den Jihadisten des Islamischen Staats (IS) zurückerobert hatten.

Für den Anschlag von Suruc wurde der IS verantwortlich gemacht, und auch für die Tragödie von Ankara kann eine islamistische Urheberschaft nicht ausgeschlossen werden. Der IS drohte der Türkei mit Vergeltung, als Ankara sich im Sommer nach langem Zögern entschloss, den Luftkrieg gegen die Islamisten zu unterstützen. Nicht nur kurdische Politiker bezichtigen die türkische Regierung, lange mit dem IS kollaboriert zu haben. Erst auf massiven Druck Amerikas beteiligte sich Ankara an der Militärintervention gegen die Jihadisten in Syrien. Das Massaker von Suruc war auch ein Katalysator für den wieder aufgeflammten Bürgerkrieg zwischen der türkischen Armee und der PKK. Ministerpräsident Davutoglu nannte die PKK neben dem IS und der linksextremistischen DHKP-C als mögliche Drahtzieher der Tragödie von Ankara.

Die Waffen ruhen nicht

Die PKK veröffentlichte am Samstag eine einseitige Waffenstillstandserklärung, die bis zur vorgezogenen Parlamentswahl vom 1. November Gültigkeit haben soll. Man werde auf Angriffe auf den Staat verzichten, sofern man nicht selber attackiert werde, teilten die Rebellen mit, die damit nach eigenem Bekunden einen fairen Urnengang ermöglichen wollen. Die Regierung äusserte sich zunächst nicht dazu. Allerdings setzte das Militär am Sonntag die Bombardierung von Verstecken der PKK im Nordirak fort. Am Vortag seien 14 PKK-Kämpfer bei Luftangriffen in der südosttürkischen Provinz Diyarbakir getötet worden, hiess es aus Sicherheitskreisen. Laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu brachte die PKK zwei Soldaten um.