FAZ, 11.10.2015

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Terroranschlag in Ankara

Auf dem alten Pfad der Gewalt

Nach dem Anschlag in Ankara steuert die Türkei auf Wahlen im Ausnahmezustand zu. Kann die Abstimmung am 1. November nun überhaupt stattfinden?

von Michael Martens, Istanbul

Noch drei Wochen, dann sollen die Türken wählen. Die zweite Parlamentswahl dieses Jahres wurde nötig, weil die bisher allein regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei der Abstimmung im Juni erstmals in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit der Mandate verfehlte und sich ebenso unwillig wie unfähig zeigte, auf dem Wege einer Koalition die Macht zu teilen. Der Wahlkampf für die neuerliche Wahl am 1. November war ohnehin schon aggressiv, die Lage vor allem im kurdisch dominierten Südosten des Landes angespannt, zum Teil bürgerkriegsähnlich. Doch nach dem blutigsten Anschlag in der türkischen Geschichte steuert die Türkei nun auf Wahlen im Ausnahmezustand zu.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen. Folgen:

Selahattin Demirtaş, Chef der vor allem von Kurden, aber auch von einem Teil der türkischen Linken gewählten Demokratischen Partei der Völker (HDP), verfolgt meist eine zurückhaltende Strategie, wählt seine Worte vorsichtig, aber nach dem Anschlag von Ankara war das anders. Wütend sprach Demirtaş von einem „Angriff des Staates“ und forderte ausländische Regierungschefs auf, ihre Beileidsbekundungen nicht an Erdogan sowie dessen amtierenden Regierungschef Ahmet Davutoglu zu richten, weil die beiden mächtigsten Männer des Landes, so zumindest Demirtaş’ Insinuation, mitverantwortlich seien für das Blutvergießen in der türkischen Hauptstadt. Seine Partei habe vor und nach den Wahlen im Juni fast 150 Menschen verloren, aber niemand sei je für die Anschläge verantwortlich gemacht worden, es habe auch keine wirksame Untersuchung gegeben, so Demirtaş.

Tatsächlich ist das Massaker in Ankara schon der dritte Vorfall in diesem Jahr, bei dem Anhänger der HDP oder Menschen aus ihrem Umfeld ums Leben kamen. Am 5. Juni, zwei Tage vor der ersten Parlamentswahl dieses Jahres, explodierte ein Sprengsatz auf der Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der türkischen Kurden. Das geschah wenige Minuten vor einem geplanten Auftritt von Demirtaş.

Zwei Menschen kamen ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Dann, im Juli, kam es zu dem Massenmord in Suruç, der hauptsächlich von Kurden bewohnten türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien. Auf der anderen Seite der Grenze liegt Kobane, die Stadt, die im vergangenen Jahr heftig zwischen kurdischen Verteidigern und den Angreifern der sunnitischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) umkämpft war. Die Kurden konnten die islamischen Terroristen am Ende zurückschlagen. Im Juli dieses Jahres hatte sich eine Gruppe vornehmlich junger Menschen, vor allem Kurden und türkische Linke, in Suruç eingefunden, um auf der anderen Seite der Grenze, im zerstörten Kobane, beim Wiederaufbau zu helfen. Als die Gruppe ihr Programm vorstellen wollte, explodierte eine Bombe in ihrer Mitte, nach heutigem Kenntnisstand von einem Selbstmordattentäter gezündet. Mehr als 30 Menschen kamen bei der Explosion ums Leben oder erlagen wenig später ihren Verwundungen.

„Es wird keine Untersuchung geben“

Und nun Ankara. Zwei Explosionen, mindestens 95 Tote und mehrere hundert Verletzte, deren Schicksal die Gesamtzahl der Opfer in den kommenden Tagen noch in eine dreistellige Höhe treiben könnte. Zwar wird der Anschlag vom Sonntag das Datum „10. 10.“ nicht zum 9/11 der Türkei machen, die politische Tagesordnung des Landes aber über den nahenden Wahltag hinaus bestimmen. Die Opfer gehörten einer ähnlichen politischen Orientierung an wie in Diyarbakir und Suruç. Linke Organisationen und Gewerkschaften hatten zu Protesten gegen die türkische Kurdenpolitik aufgerufen, und natürlich planten auch HDP-Sympathisanten, sich daran zu beteiligen. Da öffentliche und organisierte Unmutsbekundungen gegen Erdogans Politik im Gegensatz zu anderslautenden Behauptungen und trotz vieler Schikanen in der Türkei des Jahres 2015 durchaus noch möglich sind, war die Kundgebung schon vor Wochen vom Ankaraner Gouverneursamt genehmigt worden. Auch die vorgesehene Route des Protestzuges stand fest.

Die Täter konnten also planen und den Massenmord in Ruhe vorbereiten. Wenn Selahattin Demirtaş recht behält, werden wir jedoch nie erfahren, wer die Täter waren. Es werde wieder keine wirkliche Untersuchung des Angriffs geben, sagte Demirtaş. Der türkische Staat verhafte zwar Leute wegen eines einzigen regierungskritischen Satzes auf Twitter, „allein auf Befehl des Palastes“, wie Demirtaş unter Anspielung auf Erdogans riesigen Regierungssitz sagte, doch „bis zum heutigen Tag ist kein Täter (der früheren Anschläge) kenntlich gemacht worden“. Demirtaş wandte sich auch gegen die Einordnung des Verbrechens vom Samstag durch Erdogan, Davutoglu und die von der AKP kontrollierten Medien: „Dies ist kein Angriff auf die Einheit unseres Staates und Volkes. Dies ein Angriff unseres Staates gegen unser Volk.“ Daher sei auch nicht Erdogan zu kondolieren, sondern dem Volk.

Scharf wandte sich Demirtaş auch gegen Stimmen aus der AKP, laut denen die HDP selbst hinter dem Anschlag stecke, um sich auf blutige Weise eine Art Opferbonus für die Parlamentswahl zu erwerben: „Es gibt AKP-Funktionäre, die offen gesagt haben, dass wir uns selbst bombardieren. Wir sind eine Partei, die das Zusammenleben verteidigt, aber in diesem Zusammenleben gibt es keinen Platz für so tückische (Menschen) wie euch“, wurde Demirtaş nach dem Blutbad von Ankara zitiert.

Vorwürfe an PKK und IS

Doch tatsächlich wurde die Behauptung, die HDP gehe gleichsam aus wahltaktischen Gründen über Leichen, bereits am Sonntag in von der AKP kontrollierten Medien verbreitet. Die Zeitung „Sabah“ wollte zudem erfahren haben, dass eine Sondereinheit der kurdischen Terrororganisation PKK hinter dem Anschlag stecken könne, und das AKP-Verlautbarungsblatt „Yeni Şafak“ orakelte: „Der Angriff von Ankara ist fast ein Duplikat der Explosionen, die in Diyarbakir und Suruç stattfanden. Die AKP hat bei den Wahlen im Juni eine große Anzahl an Stimmen an die HDP verloren. Die Sichtweise und Gefühlslage, die nach den Angriffen von Diyarbakir und Suruç komponiert wurde, beeinflusste diese Wahl. Denn die Partei an der Macht ist für die öffentliche Ordnung verantwortlich.“ Daher, so die Schlussfolgerung, sei es nicht einleuchtend, das eine mit der AKP verbundene Gruppe die Anschläge von Ankara verübt haben könnte.

Dieser Gedankengang ist zumindest weniger abwegig als vieles von dem, was die Regierungsmedien ihren Konsumenten sonst zur Welterklärung servieren. Doch wer könnte sonst ein Interesse daran gehabt haben, eine als Friedensdemonstration deklarierte Veranstaltung in Blut und Tod untergehen zu lassen? Ahmet Davutoglu, der sein Land nun schon im fünften Monat ohne reguläre Mehrheit regiert und wie die anderen führenden Politiker des Landes alle Wahlkampfveranstaltungen in den kommenden drei Tagen absagte, sprach am Wochenende von „starken Anzeichen“, dass in Ankara Selbstmordattentäter zum Einsatz gekommen seien. Schon „seit einiger Zeit“ habe es geheimdienstliche Informationen darüber gegeben, dass die PKK und der „Islamische Staat“ Selbstmordattentäter in die Türkei entsandt hätten „und dass durch diese Angreifer Chaos in der Türkei hervorgerufen werden sollte“, so der Nachfolger Erdogans als Partei- und Regierungschef in Ankara. Die PKK oder der IS könnte sich daher als Täter des Terroraktes herauskristallisieren.

Davutoglu rief die Bürger der Türkei zu Geschlossenheit auf: „Lasst uns Seite an Seite gegen den Terrorismus stehen“, forderte der ehemalige Professor, der in Absprache mit Erdogan eine dreitägige Staatstrauer verkündete: „Wir haben uns entschieden, drei Tage des Trauerns zu erklären, um all unserer Bürger und Märtyrer zu gedenken, die in den Terrorangriffen getötet worden sind“, sagte Davutoglu.

Tatsächlich sind am Wochenende nicht nur in Ankara türkische Staatsbürger gewaltsam ums Leben gekommen. Im Schatten der Tragödie in der Hauptstadt wurden in Südostanatolien, wie es seit einigen Wochen wieder traurige Regel ist in der Türkei, auch Polizisten und Sicherheitskräfte durch Anschläge der PKK getötet und verwundet. Am gleichen Tag, an dem es in Ankara zum größten Anschlag in der türkischen Geschichte kam, verlor im Zentrum von Diyarbakir ein Polizist sein Leben, als die Polizei von PKK-Sympathisanten errichtete Straßensperren räumen wollte und ein Sprengsatz explodierte. Am Tag zuvor war in der Provinz Diyarbakir ein Polizist getötet worden, der mit seiner Frau und seinem kleinen Kind, die unverletzt blieben, in einen Hinterhalt der kurdischen Terroristen geraten war. Das türkische Militär verkündete unterdessen die „Neutralisierung“ (Tötung) mehrerer PKK-Kämpfer in der Region.

Werden die Wahlen verschoben?

Davutoglu kündigte nach dem Anschlag von Ankara an, mit dem Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu von der „Republikanischen Volkspartei“ und Devlet Bahçeli von der „Partei der nationalistischen Bewegung“ (MHP) über das weitere Vorgehen beraten zu wollen - nicht aber mit Demirtaş. Dessen Äußerung, das Großverbrechen von Ankara sei ein Angriff des Staates, nannte Davutoglu eine „Provokation“. Zugleich kritisierte Davutoglu die türkische Opposition, sie stehe einem entschlossenen Kampf gegen den Terrorismus im Wege, da sie sich nach der Wahl im Juni geweigert habe, eine Koalition mit der AKP einzugehen.

Freilich gibt es außerhalb der Regierungspartei kaum Stimmen, die der Opposition die Schuld an der gescheiterten Koalitionsbildung geben. Vielmehr scheint die AKP, mit Erdogan als machtvollem Dirigenten im Hintergrund, alles darangesetzt zu haben, dass die Gespräche erfolglos endeten.

Wie wird es nun weitergehen? Erste Stimmen warnen, bei einer weiteren Verschärfung der Sicherheitslage könnten die Wahlen gar verschoben werden. Die PKK hatte ihrerseits über einige Mittelsmänner schon vor dem Anschlag von Ankara angedeutet, sie wolle bis zum 1. November einseitig einen Waffenstillstand einhalten und sich nur zur Wehr setzen, wenn sie angegriffen werde. Man werde Handlungen vermeiden, die „eine faire und gerechte Wahl“ gefährden könnten. So bestätigte es am Wochenende auch eine der PKK nahestehende Nachrichtenagentur.

Gerecht und fair geht freilich schon lange nichts mehr zu in der Türkei. Seit Erdogan den von ihm selbst angestoßenen Gesprächsprozess mit der PKK und ihrem auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan abgebrochen hat, ist die Türkei wieder auf den alten Pfad der Gewalt eingeschwenkt. Dabei waren Erdogan und die AKP schon einmal weiter: Vor einigen Jahren verkündeten alle führenden AKP-Politiker, dass der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurden militärisch nicht zu lösen sei. Nur mit politischen Mitteln sei das eigene Land zu befrieden. Doch im Jahr 2015 sind die AKP und ihr Übervater hinter die eigenen Erkenntnisse zurückgefallen. Niemand weiß, ob es nach dem 1. November eine Koalitionsregierung in Ankara geben wird, die an alte Einsichten anknüpfen kann und will.

Erdogan, der einen geplanten Besuch in Turkmenistan absagte, verdammte den „hasserfüllten Angriff“ auf „die Einheit und die Solidarität“ der Türkei, ließ aber nicht erkennen, wie er weiter verfahren will.

Stattdessen sprach er von „Doppelmoral“ im Umgang mit dem Terrorismus - ein Hinweis auf seine alte Ansicht, dass die PKK und der „Islamische Staat“ aus demselben Holz geschnitzt seien und beide gleichermaßen bekämpft werden müssten.