Der Tagesspiegel, 11.10.2015 http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-dem-anschlag-die-tuerkei-in-syriens-sog/12436700.html Nach dem Anschlag Die Türkei: In Syriens Sog Von Thomas Seibert und Albrecht Meier Die Terrormiliz IS wird verdächtigt, den Anschlag von Ankara verübt zu haben. Wie gefährlich ist der Krieg im Nachbarland für die Stabilität der Türkei? Nach dem Anschlag von Ankara mit fast 100 Toten verdichten sich die Hinweise auf eine Täterschaft des „Islamischen Staates“ (IS). Experten sehen die Stabilität der Türkei in Gefahr, weil der Syrienkonflikt zunehmend auf das Land übergreift. Wer könnte für den Anschlag
verantwortlich sein? Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht der 25-jährige Yunus Emre Alagöz aus dem nordosttürkischen Adiyaman. Er war möglicherweise mit dem unbekannten Bärtigen zusammen unterwegs und sprengte sich nach dessen Megafon-Aufruf mitten in der Menschenmenge in die Luft; die zweite Bombe wurde laut Medienberichten von einer Frau gezündet. Alagöz ist der Bruder jenes Mannes, der am 20. Juli in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze eine Bombenweste zündete und mehr als 30 kurdische und linke Aktivisten mit in den Tod riss. Die Brüder Alagöz reisten nach Erkenntnissen der Polizei im vergangenen Jahr nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen und sich im Bombenbau ausbilden zu lassen. Was lässt sich über die möglichen
Hintergründe des Verbrechens sagen? Dafür wolle der IS die Kurden nun „bestrafen“, betonte Özcan, der für die Denkfabrik Tepav in Ankara arbeitet. „Der IS hat in Ankara zugeschlagen, weil in den kommenden Tagen eine Offensive der USA und der Kurden bei Rakka erwartet wird.“ Rakka ist die Hauptstadt des vom „Islamischen Staats“ ausgerufenen „Kalifats“ in Syrien. „Der Krieg zwischen dem IS und den Kurden in Syrien greift auf die Türkei über“, schrieb auch der angesehene Kolumnist und Islam-Experte Mustafa Akyol auf Twitter. Was bedeutet das für die Sicherheitslage
im Land? Dies wiederum verstärkt die Kritik an den Behörden: Warum wurden die Veranstalter der Demo vom Samstag nicht gewarnt? „Ganz offensichtlich liegen geheimdienstliche Mängel vor“, sagte Cevat Önes, ein früherer Vizechef des Geheimdienstes MIT, der Zeitung „Zaman“. So kurz vor der Parlamentswahl vom 1. November mit Massenkundgebungen der Parteien dürfte die Angst vor neuen Attacken weiter wachsen. Sicherheitsexperte Özcan hält den Pessimismus für durchaus berechtigt. Auch er erwarte, dass es noch schlimmer kommen werde. Wie regieren die Regierungsgegner? Droht eine „Nahostisierung“
der Türkei? Auch in der türkischen Führung wird diese Gefahr gesehen. Das Land werde alleine nicht mehr mit der Lage in Syrien fertig, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter, der nicht genannt werden will. EU, Nato und der Westen insgesamt müssten Verantwortung übernehmen. Insbesondere seit dem Beginn des russischen Militäreinsatzes auf seiten der syrischen Regierung ist man in Ankara überzeugt, dass die Region vor sehr schwierigen Zeiten steht. Der Krieg in Syrien sei wie ein Fluch für die türkische Politik in Nahost, die Lage dort, aber auch für Probleme wie den Kurdenkonflikt in der Türkei selbst, sagte der Regierungsvertreter: „Syrien hat alles vergiftet.“ Wie verhalten sich Deutschland
und die EU? Die SPD-Politikerin Michelle Müntefering, Vorsitzende der Parlamentariergruppe Deutschland-Türkei im Bundestag, forderte, dass die Ergebnisse bei der bevorstehenden Wahl „akzeptiert und umgesetzt“ werden müssten. „Stabilität und Sicherheit müssen auch für die kurdischen Gebiete gewährleistet sein“, sagte sie dem Tagesspiegel. Dazu müssten „alle Gruppierungen und Kräfte im ganzen Land beitragen“. Für die EU gelten stabile Verhältnisse in der Türkei als eine entscheidende Bedingung für eine Lösung der Flüchtlingskrise. Vergangene Woche hatte die EU-Kommission einen Aktionsplan veröffentlicht, dem zufolge Ankara sechs weitere Flüchtlingslager auf türkischem Boden eröffnen soll. Im Gegenzug würde die Türkei in diesem und im kommenden Jahr eine Milliarde Euro für die Flüchtlingshilfe von der EU erhalten. Zudem setzt Recep Tayyip Erdogan auf Visaerleichterungen und die Einstufung seines Landes als sicheres Herkunftsland in der Flüchtlingskrise. Eigentlich sollen bis zum nächsten EU-Gipfel am Donnerstag Details einer Vereinbarung ausgearbeitet sein. Aber der Zeitplan droht nach dem Anschlag ins Rutschen zu geraten. Am Sonntag teilten der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn mit, dass sie ihre Türkei-Reise verschieben.
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