Neues Deutschland, 10.10.2015

http://www.neues-deutschland.de/artikel/987347.kein-frieden-mit-dieser-regierung-moeglich.html

»Kein Frieden mit dieser Regierung möglich«

Schriftsteller und Aktivist: Herrschende wollen selbst dieses fürchterliche Massaker für Machterhalt instrumentalisieren

Der Anschlag in Ankara zeigt für den Schriftseller und Aktivisten Alp Kayserilioğlu: Ab jetzt gibt es in der Türkei keine Sicherheit mehr für das Leben, falls gegen die Regierung protestiert wird.

Wer hat die Demonstration in Ankara organisiert und was waren die Forderungen der DemonstrantInnen?
Die Demonstration in Ankara wurde von einigen großen Gewerkschaftsdachverbänden und Kammern organisiert: der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK), der Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK), der Architektenkammer (TMMOB) und der Ärztekammer (TTB). Sie war selbstverständlich auch mit der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) abgesprochen, die ebenfalls für die Demonstration mobilisierte. Andererseits mobilisierten auch sehr viele andere linke Parteien und Vereinigungen zur Demonstration.

Meiner Einschätzung vor Ort nach waren zum Zeitpunkt der Explosion mindestens mehrere Tausend Menschen bei der Kundgebung vor dem Hauptbahnhof, viele waren noch auf dem Weg zur Veranstaltung. Genaue Zahlen lassen sich allerdings nicht angeben, denn die Bomben gingen ja vor dem Beginn der Demo in die Luft. Wir selbst waren gerade eilig auf dem Weg zum Platz vor dem Hauptbahnhof, um uns schnell noch in die Demoblöcke einreihen zu können, als just dort, 200 Meter vor uns, die erste Bombe ohrenbetäubend in die Luft ging. Die zweite folgte ein paar Sekunden später keine 50 Meter von der ersten entfernt. Wären wir mal ausnahmsweise pünktlich gewesen, würden wir das Interview hier wohl nicht führen.

Gefordert wurde der Stopp des Krieges und Frieden, verantwortlich für die eskalierende Situation wurde die AKP-Regierung gemacht.

Weiß man inzwischen mehr über den Anschlag und über die möglichen Täter?
Nach derzeitigem Stand (Mitternacht) gibt es laut HDP Krisenzentrum 128 Tote und mehr als 500 Verwundete. Unter den Opfern befinden sich viele Mitglieder der HDP, ESP, EMEP, Halkevleri, CHP-Jugend und anderer Parteien. Auch AbgeordnetenkandidatInnen der HDP befinden sich unter den Opfern, ebenfalls Mitglieder alevitischer Vereinigungen und Gewerkschafter aus den unterschiedlichsten Branchen.

Es sind mit Sicherheit zwei Bomben in die Luft gegangen. Das habe ich selbst gehört und gesehen und es bestätigen dies auch viele andere Augenzeugenberichte und auch Videomaterial. Es ist zudem sicher, dass die Bomben mit Splittern verstärkt wurden, um die Wirkung zu erhöhen. Die Bomben selbst hatten eine Sprengkraft von 10-20 Metern. Die Splitter waren das Verheerende, die sprengte es weit über den Radius der Bomben hinaus. Die Splitter, die Polizeiintervention ca. 10-15 Minuten nach den Explosionen und das nur sehr, sehr langsame Agieren der vom Gesundheitsministerium koordinierten Krankenwägen führten zu der so großen Opferzahl.

Zu den Tätern: Es scheint sicher, dass es zwei Selbstmordattentäter waren, die Identitäten sind meines Wissens noch ungeklärt. Der IS jedenfalls gratulierte zum Anschlag. Dass der Premierminister Davutoğlu sich ernsthaft dazu entblödet zu behaupten, es könnten nebst dem IS auch die PKK, die MLKP oder die DHKP-C gewesen sein, was absoluter Nonsens ist, zeigt schon zu Genüge, dass die Regierung dieses fürchterliche Massaker wie bisher für ihren Machterhalt instrumentalisieren will.

Wie reagiert die AKP-Regierung auf die Friedensbewegung und die übrige Opposition?
Der Anschlag in Ankara, immerhin die Hauptstadt der Republik, und zwar bei einer Demo, von der alle felsenfest sicher waren, dass sie friedlich wird, und die wirklich ans Bestialische grenzende nonchalante Art und Weise, wie Präsident Erdoğan das Ganze kommentierte – nämlich nach dem Stil »das ist nicht schlimmer als die Angriffe, die gegen unsere Soldaten stattgefunden haben« –, gekoppelt mit all den offenen Drohungen gegenüber Oppositionellen seitens der AKP in den letzten Wochen und Monaten, soll den Menschen hier Folgendes zu verstehen: ab jetzt gibt es in der Türkei keine Sicherheit mehr für das Leben, falls gegen die Regierung protestiert wird.

Wie sehen die Chancen der linken Opposition aus, bei den Neuwahlen eine AKP-Mehrheit zu verhindern?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob überhaupt Neuwahlen stattfinden, zumindest unter »normalen« Bedingungen. Ich halte es ehrlich gesagt aber auch für einen riesigen politischen und moralischen Fehler, unter diesen de facto Bürgerkriegsbedingungen und bei einer de facto diktatorisch alleinregierenden Partei, die in dieser Form schon längst abgewählt wurde und die offen mit Toten und Verwundeten Wahlmathematik betreibt, noch ernsthaft wie in »normalen« Zeiten von Wahlen und dergleichen zu reden und diesen Schlächtern dadurch noch irgendwie eine Legitimation zu erteilen. Die AKP führt Krieg und will Tote, um sich mittels chauvinistischer Reflexe und Terror an der Macht zu halten. So war sie vor den Wahlen im Juni und so ist sie seit den Wahlen im Juni. Noch einen Tag vor dem Anschlag drohte der Mafiaboss Sedat Peker auf einer Veranstaltung zur Unterstützung der AKP in Rize damit, dass »literweise Blut fließen wird«. Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek von der AKP, gab gerade zu verstehen, dass »die HDP jetzt Angst um den Wiedereinzug in das Parlament« haben wird. Offener kann der Staat eigentlich nicht mehr reden.

Wir, die wir diesen Anschlag mit welchem Glück auch immer überlebt haben, haben regelrecht die Pflicht und die Bürde, diese Regierung und ihre Schlächter mit allen Mitteln zu stürzen und sie den Preis für all das von ihr verursachte Leid und den Tod zahlen zu lassen. Das sind wir den mittlerweile Hunderten von Toten und Tausenden von Leidenden schuldig. Und nur so wird es vielleicht eines Tages Frieden geben.

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Nur knapp überlebt
Alp Kayserilioğlu lebt derzeit als freier Schriftsteller, freier Übersetzer und politischer Aktivist in Istanbul und ist einer der Mitautoren von „Kampf um Kobane“. Er hat den Anschlag in Ankara nur knapp überlebt. Das Interview für “nd” führte Ismail Küpeli.