junge Welt, 12.10.2015

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Massaker in Ankara

Auf eine Demonstration von Gewerkschaftern und linken Aktivisten in der türkischen Hauptstadt wurde am Samstag ein Anschlag verübt – einer der blutigsten in der Geschichte des Landes

Von Kevin Hoffmann/ Ankara

Die für vergangenen Samstag geplante Friedensdemonstration in der Innenstadt von Ankara sollte ein Zeichen der Entschlossenheit gegen die Kriegspolitik der AKP-Regierung setzen. Doch bevor die Manifestation beginnen konnte, endete sie in einem Blutbad, dem mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Opfer fielen.

Organisiert wurde die Kundgebung von den linken Gewerkschaftsverbänden DISK und KESK, dem Verband der Ingenieure TMMOB und der Medizinervereinigung TTB. Auch die prokurdische HDP und andere linke Gruppen hatten zu ihr aufgerufen und waren mit Bussen aus der gesamten Türkei und Nordkurdistan angereist. Bereits am frühen Morgen sammelten sich die Demonstranten am Hauptbahnhof von Ankara. Jugendliche sangen türkische und kurdische Lieder und tanzten dazu. Die Stimmung unter der stetig anwachsenden Menge war fröhlich und ausgelassen. Auch eine Gruppe von Mitgliedern der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF), die das Massaker vom 20. Juli in der türkisch-syrischen Grenzstadt Suruç überlebt hatten, war angereist. Noch bevor sich alle Teilnehmer auf dem Platz versammelt hatten und die Demonstration beginnen konnte, erschütterten um 10.04 Uhr (Ortszeit) zwei gewaltige Explosionen den Bahnhofsvorplatz.

Serkan Yilmaz, Mitglied der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), beschreibt die Ereignisse wie folgt: »Es gab kurz hintereinander zwei ohrenbetäubende Explosionen, nur wenige Meter von unserer Gruppe entfernt. Zuerst realisierten wir nicht, was geschehen war, doch dann warfen wir uns alle auf den Boden, viele gerieten in Panik, alles war voller Blut, und die Menschen rannten ziellos auseinander. Wir versuchten sofort, gemeinsam mit anderen den Verletzten zu helfen. Niemand hatte solch ein unmenschliches Massaker erwartet.«

Verschiedene Augenzeugen berichteten zudem, dass zunächst keine und dann nur wenige Krankenwagen zum Anschlagsort kamen. So wurde ein Großteil der Schwerverletzten von Taxifahrern in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Überlebende und Mitglieder der Gesundheitsgewerkschaft SES versuchten, die Verwundeten notdürftig zu versorgen.

Fuat Uygur, ein Journalist der türkischen Nachrichtenagentur ETHA und Augenzeuge, sagte gegenüber jW, er gehe davon aus, dass es sich bei den Explosionen um Selbstmordanschläge handle. »Eine der Detonationen erfolgte, als ein Block von HDP-Mitgliedern vorbeizog, die andere, als Demonstranten der linken Organisationen Partizan und Kalidiraç passierten. Die Leichen wurden von Demonstranten mit Fahnen und Transparenten zugedeckt.« Auch das türkische Innenministerium spricht derzeit von zwei Selbstmordanschlägen.

Als die Polizei nach mehr als 15 Minuten am Anschlagsort eintraf, griff sie Helfer und verletzte Demonstranten mit Schlagstöcken und Wasserwerfern an, wie auf zahlreichen Videos, die im Internet kursieren, zu sehen ist. Augenzeugen berichten zudem von Warnschüssen, welche von Polizisten in die Luft abgegeben wurden.

Ging man zunächst von etwa 35 Toten aus, stieg diese Zahl rasch an. Am Samstag abend veröffentlichte der von der HDP eingerichtete Krisenstab die Meldung, dass 128 Demonstranten getötet und mehr als 520 Verletzte in Krankenhäuser eingeliefert wurden. Dort wurden die zur Behandlung der Verletzten benötigten Blutkonserven knapp, so dass diese auf Blutspenden von Demonstranten und aus der Bevölkerung angewiesen waren. Unter den Toten befinden sich auch mindestens zwei Kandidaten der HDP für die am 1. November anstehenden Parlamentswahlen.

Noch am Samstag abend kam es in vielen Städten der Türkei zu großen Trauerdemonstrationen. Auf der zentralen Istiklal-Straße in Istanbul gingen mehrere zehntausend Menschen auf die Straße. Sie klagten den türkischen Staat als Urheber des Massakers an und forderten den Rücktritt der Regierung. Wie auch in anderen Orten griff die Polizei in Izmir eine Trauerkundgebung an und nahm dort 64 Menschen, darunter zwei Kinder, in Gewahrsam.

Als am Sonntag vormittag die Kovorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, gemeinsam mit Gewerkschaftsvertretern, Parlamentsabgeordneten, Verletzten des Massakers und Tausenden Demonstranten Blumen am Tatort ablegen wollten, wurde der Gedenkmarsch von der Polizei gestoppt und ebenfalls angegriffen. Demirtas rief bei einer anschließenden Kundgebung aus: »Ein gemeinsames Leben der Unterdrückten und Ausgestoßenen ist möglich. Wir werden nicht vor einem Haufen Halunken zurückweichen!« Die Familien der Ermordeten warteten unterdessen vor dem Forensischen Institut in Ankara darauf, ihre Angehörigen zu identifizieren, um sie anschließend in ihren Heimatstädten beerdigen zu können. Die ersten Beisetzungen fanden noch am Sonntag statt.

Politische Aktivisten in der Türkei sehen in der von der Regierung verkündeten dreitägigen Staatstrauer für »alle Opfer des Terrorismus der vergangenen Monate« ein äußerst makaberes und schlechtes Schauspiel der Herrschenden. Die Gewerkschaftsverbände DISK und KESK rufen für Montag und Dienstag zu einem Generalstreik auf. Für die kommenden Tage sind weitere Demonstrationen in zahlreichen Städten der Türkei angekündigt.

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Solidarität mit Opfern – Wut auf Präsident Erdogan

Nach dem Anschlag in Ankara sind am Samstag und Sonntag in mehreren deutschen Städten Tausende Menschen auf die Straße gegangen. Demonstrationen fanden unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und Stuttgart statt. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Kundgebungen.

Etwa 80 Kurden haben am Sonntag in Dresden gegen den Terroranschlag in der türkischen Hauptstadt protestiert. Zu der Spontandemonstration auf dem Theaterplatz hatte der Verein Deutsch-Kurdischer Begegnungen aufgerufen. Auf einem Plakat wurde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Terrorist bezeichnet.

In Berlin versammelten sich am Samstag rund 2.000 Menschen und zogen von Neukölln nach Kreuzberg. In Redebeiträgen wurde darauf hingewiesen, dass der türkische Staat den Friedensprozess mit der PKK einseitig aufgekündigt hat. Außerdem unterstütze Ankara die Dschihadisten des »Islamischen Staates«, um die kurdische Bewegung zu schwächen.

In Frankfurt am Main demonstrierten laut der Initiative »Freiheit für Öcalan« ebenfalls rund 2.000 Menschen. Ursprünglich sollte für die Freilassung des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan demonstriert werden. Nach dem Anschlag in Ankara richtete sich der Protest aber auch »gegen den Terror des türkischen Staates gegenüber den Friedensaktivisten in der Türkei und in Kurdistan«.

In Hamburg ging der Protestzug vom Hauptbahnhof zum türkischen Generalkonsulat im Stadtteil Rotherbaum. In Stuttgart zogen rund 1.000 Menschen durch die Innenstadt. In Heilbronn nahmen etwa 500 Menschen an einer Kundgebung der Kurdischen Gemeinschaft teil. Demonstrationen fanden zudem in Mannheim, Freiburg, Karlsruhe, Ulm und Pforzheim statt.

Auch in anderen europäischen Städten gingen Tausende Menschen auf die Straße. So versammelten sich mehrere hundert Demonstranten in Wien, um ihre Solidarität mit den Opfern zu bekunden. Außerdem fanden Proteste unter anderem in Rom, Paris und Zürich statt.

(dpa/jW)