Neues Deutschland, 12.10.2015

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Grüne: Erdogan darf kein Gesprächspartner sein

Özdemir fordert Abbruch der Gespräche mit der Türkei über Flüchtlinge / Tausende gehen in Europa auf die Straße: »Kein Beileid für Erdogan aussprechen, denn er ist der Täter«

Berlin. Nach dem schweren Anschlag auf eine linke Demonstration mit fast 100 Toten hat der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan vorgeworfen, die Spannungen in der Türkei anzuheizen. Özdemir forderte zudem ein Ende der laufenden Gespräche mit dem autoritären Regime. »Wer sein eigenes Land ins Chaos stürzt, weil er Angst davor hat, im Falle einer Wahlniederlage für seine Untaten zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist kein verlässlicher Partner«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

In der »Passauer Neuen Presse« wurde Özdemir mit den Worten zitiert, »offensichtlich wird hier daran gearbeitet, geordnete und faire Wahlen zu verhindern«. Wenn am 1. November »reguläre demokratische Wahlen stattfinden, hätte Erdogan wieder keine Mehrheit. Das weiß auch er«, sagte der Grünen-Politiker. Özdemir forderte, die Gespräche der EU mit Erdogan auf Eis zu legen: »Wir dürfen bis zur Wahl am 1. November nichts tun, was als Stärkung von Erdogan verstanden werden könnte. Jedes Abkommen wäre ein Signal, dass Erdogan für uns ein normaler Gesprächspartner wäre.« Wer aber »den Tod seiner Bürger, Polizisten und Soldaten in Kauf nimmt«, könne kein Staatschef sein.

Der Grünen-Vorsitzende warnte die Regierungen in Europa auch davor, auf die Türkei als Partner zu setzen, um die politische Krise im Umgang mit den Flüchtlingen zu bewältigen. Es drohe »ein schmutziger Deal mit einem autoritären Herrscher«. Dafür, dass Erdogan Europa die Flüchtlinge vom Leib halte, sollten die EU-Partner »die Augen zudrücken, wenn er sein Volk unterdrückt«. Ein solcher Handel sei aber für Demokraten nicht akzeptabel: »Wer wie Erdogan die Kurden sogar im Nordirak und in Syrien bekämpft, der stärkt den IS und verstärkt die Fluchtursachen.« Die EU dürfe den türkischen Präsidenten »nicht mehr als normalen Gesprächs- und Verhandlungspartner betrachten«, denn Erdogan und seine islamisch-konservative Partei AKP seien »zu allem entschlossen - auch zu undemokratischen Maßnahmen«. Das dürfe der Westen nicht »achselzuckend zur Kenntnis nehmen«.

Nach dem Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara ist die Zahl der Todesopfer auf 97 gestiegen. Das teilte das Amt von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Sonntagabend auf der Website des Regierungschefs mit. 95 von 97 Todesopfern seien identifiziert, unter den Toten sei ein Palästinenser. Nach Angaben der linken Oppositionspartei HDP könnten über 120 Menschen getötet worden sein. Mehr als 500 weitere Menschen wurden bei dem Anschlag am Samstag verletzt.

Bei den beiden mutmaßlichen Selbstmordattentätern handelt es sich den Ermittlern zufolge um Männer. Ihre Identifizierung sei noch im Gange. Die türkische Regierung verdächtigt die Islamistenorganisation Islamischer Staat (IS). Zwei Explosionen hatten sich am Samstagmorgen inmitten der Teilnehmer einer Friedensdemonstration von linken Gruppen und Parteien ereignet, die sich in der türkischen Hauptstadt vor dem Hauptbahnhof versammelt hatten. Zu dem regierungskritischen Protestmarsch hatte unter anderen die Kurdenpartei HDP aufgerufen.

Unmittelbar nach dem verheerenden Terroranschlag in der Türkei haben in mehreren deutschen Städten Tausende Kurden und Sympathisanten gegen den Terror demonstriert. Bei Kundgebungen machten Teilnehmer den türkischen Staat und den Staatspräsidenten Erdogan für die Tat verantwortlich. »Kein Beileid für Erdogan aussprechen, denn er ist der Täter«, stand auf einem Schild bei einer Demonstration am Samstag in Hamburg. Die größte Kundgebung wurde aus Stuttgart gemeldet, wo spontan etwa 5.000 Menschen auf die Straße gingen. In Hamburg beteiligten sich 1.500 überwiegend Kurden, in Berlin 1.000, in Stuttgart etwa 700 und in Mannheim bis zu 400. »Sag Nein zum Staatsterror« forderten 200 Teilnehmer in Karlsruhe. In Heilbronn kamen etwa 350 Menschen zu einer Demo der Kurdischen Gemeinschaft. Auch in Dresden, Ulm, Heidenheim und Pforzheim wurde demonstriert.

Auch in Paris bekundeten Hunderte ihre Solidarität mit den Kurden in der Türkei. Bei einem Marsch durch die französische Hauptstadt riefen Teilnehmer Parolen, in denen sie Erdogan als »Mörder« bezeichneten, wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die Demonstranten forderten eine »politische Lösung für Kurdistan«. Sie hielten die Banner verschiedener kurdischer Gruppen hoch. Nach Angaben der Polizei nahmen 3.000 Menschen an dem Marsch teil. Am Samstag hatten sich bereits rund tausend Demonstranten in Paris versammelt, um nach dem Anschlag in Ankara ihre Solidarität mit den Kurden zu bekunden. Agenturen/nd