Der Tagesspiegel, 12.10.2015

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Tief gespalten - und unregierbar?

Von Susanne Güsten und Albrecht Meier

Die Türkei trauert um die Opfer des schlimmsten Terroranschlags in ihrer Geschichte. Doch das Leid eint nicht - die Risse in der türkischen Gesellschaft sind so unüberbrückbar wie nie zuvor.

Tausende Menschen bei Beisetzungsfeiern überall im Land, Arbeiter, Beamte, Akademiker und Ärzte im Proteststreik – die Türkei trauerte am Montag um die Opfer des Terroranschlags von Ankara, bei dem fast 100 Menschen starben. Doch es war keine gemeinsame Trauer einer Nation, die gerade den schlimmsten Terroranschlag ihrer Geschichte erlebt hat. Vielmehr wurde deutlich, dass die Risse in der türkischen Gesellschaft so tief sind wie nie zuvor. Das Wort von der Unregierbarkeit des Landes macht die Runde.

Weniger als drei Wochen vor der Parlamentswahl am 1. November zerfällt das Land immer mehr in zwei Lager: Anhänger und Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP. Eine Verständigung zwischen diesen Blöcken wird immer schwieriger. So weigert sich AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, mit der legalen Kurdenpartei HDP zu sprechen, die etliche Mitglieder bei dem Anschlag verlor. Kein Regierungsmitglied ließ sich bei den Beisetzungfeiern für die Anschlagsopfer blicken.

Einige regierungsnahe Medien schürten die Spannungen, indem sie die absurde Theorie verbreiten, die PKK-Kurdenrebellen hätten den Anschlag im Auftrag des syrischen Präsidenten Baschar al Assad ausgeführt. Die islamistische Zeitung „Yeni Akit“ setzte noch eins drauf und machte die Geheimdienste Deutschlands, Großbritanniens und der USA für die Gewalt verantwortlich.

Burhan Kuzu, ein Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, bezeichnete den Anschlag gar als Folge der Wahl vom 7. Juni, bei der die AKP abgestraft wurde und ihre Mehrheit im Parlament verlor. In einer als besonders abstoßend kritisierten Art der Wählerbeschimpfung schrieb Kuzu nach dem Anschlag, die Menschen hätten eben „das Chaos gewählt“.

Umgekehrt sind die HDP-Führung und viele Kurden und Linke felsenfest überzeugt, dass der Staat in die Gewalttat von Ankara verwickelt war. Die Behörden hätten „Blut an den Händen“, sagte HDP-Chef Selahettin Demirtas. Die Oppositionszeitung Cumhuriyet meldete, Zivilpolizisten seien bei der von zwei Selbstmordattentätern angegriffenen Friedensdemo von Ankara zwar anwesend gewesen, hätten die Gewalttat aber nicht verhindert.

Unterdessen kommen die Ermittlungen nur langsam voran. Regierungschef Davutoglu sagte, Anhänger des Islamischen Staates (IS) seien die Hauptverdächtigen. Einer der beiden Attentäter werde bald identifiziert sein. Laut Presseberichten konzentriert sich die Tätersuche auf eine mutmaßliche IS-Zelle aus Ostanatolien. Einige Mitglieder dieser Zelle sind der Polizei bekannt – warum sie dennoch frei herumlaufen und Anschläge verüben konnten, gehört zu den vielen offenen Fragen. Davutoglu betonte, in jüngster Zeit seien in Ankara und Istanbul einige andere Anschläge verhindert worden. Doch das kann die Kritiker nicht beruhigen.

Natürlich habe die Regierung das Verbrechen von Ankara nicht verübt, schrieb der Kolumnist Ahmet Hakan in der Zeitung „Hürriyet“. Doch die von der Regierung aus wahltaktischen Gründen in den vergangenen Jahren betriebene Polarisierung der Gesellschaft habe ein Klima geschaffen, in dem „der eine den anderen hasst“. Hakan spricht aus Erfahrung – er war kürzlich von AKP-Schlägern mit auf offener Straße verprügelt worden.

Da die meisten Umfragen für die Wahl am 1. November erneut keine klaren Mehrheitsverhältnisse im Parlament voraussagen, verbreitet sich das Gefühl, die Türkei treibe ruderlos immer neuem Unglück entgegen. „Die Krise wird zunehmen unlösbar“, analysierte das Unternehmen Teneo Intelligence, das andere Firmen bei Sicherheitsfragen berät.

Der Psychologe Kemal Sayar forderte in Al Dschasira, die Türken brauche jetzt Solidarität in der Gesellschaft und eine gemeinsame Aufarbeitung des Traumas. Doch davon ist nichts zu sehen. Premier Davutoglu und die Spitzenpolitiker der im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, darunter die HDP, können sich nicht einmal auf eine Zusammenkunft einigen, um gemeinsam den Terror zu verdammen. Das linksgerichtete Portal Sol kommentierte, die Türkei sei mittlerweile unregierbar.
EU-Außenbeauftragte Mogherini: EU und Ankara haben "mehr denn je" gemeinsame Agenda

In Luxemburg erklärte derweil die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zwei Tage nach dem Anschlag, dass die Europäische Union und die Türkei jetzt „mehr denn je“ eine gemeinsame Agenda zur Stabilisierung der gesamten Region hätten. Ganz im Sinne Erdogans dürfte eine Erklärung sein, welche die EU-Außenminister in Luxemburg verabschiedeten. Darin heißt es, dass eine Lösung des Konflikts in Syrien und ein dauerhafter Frieden unter Präsident Assad nicht zu erreichen seien. Erdogan gehört zu den Politikern, die die Forderung nach einem Abtreten des syrischen Machthabers besonders laut vertreten. Zudem kann das Nato-Mitglied Türkei angesichts des Krieges im benachbarten Syrien weiter auf die Unterstützung des Verteidigungsbündnisses zählen: In der Nato gibt es Überlegungen, den Einsatz der „Patriot“-Flugabwehrsysteme in der Türkei anders als ursprünglich geplant über das Jahresende hinaus zu verlängern.

Während die EU Erdogan in der Syrien-Politik entgegenkommt, setzen die Europäer ihrerseits auf den türkischen Präsidenten bei der Lösung der Flüchtlingskrise. Die Türkei sei in der Flüchtlingsfrage „das Schlüsselland für Europa“, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Montag in Luxemburg. Die Europäer erwarten von Erdogan, dass er weitere Flüchtlingslager einrichtet und die Grenze zu Griechenland stärker sichert. Im Gegenzug will der türkische Präsident erreichen, dass sein Land als sicherer Herkunftsstaat für Schutzsuchende eingestuft wird. Die Verhandlungen über diesen heiklen Punkt könnten sich noch eine Weile hinziehen. Am kommenden Sonntag will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in die Türkei reisen. Bei ihren Gesprächen dürfte neben der Lage in Syrien auch die geplante Kooperation zwischen der EU und Ankara in der Flüchtlingskrise eine große Rolle spielen.