Neues Deutschland, 12.10.2015

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»Die AKP führt Krieg und will Tote«

Der Schriftsteller und politische Aktivist Alp Kayserilioglu klagt das Erdogan-Regime an

Wer hat die Demonstration in Ankara organisiert und was waren die Forderungen der Demonstranten?

Der Marsch wurde vor allem von Gewerkschaftsdachverbänden organisiert. Er war selbstverständlich auch mit der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker, der HDP, abgesprochen, die ebenfalls mobilisierte. Das taten auch viele andere linke Parteien und Vereinigungen. Meiner Einschätzung vor Ort nach waren zum Zeitpunkt der Explosion mehrere Tausend Menschen bei der Kundgebung vor dem Hauptbahnhof. Gefordert wurde der Stopp des Krieges, verantwortlich für die eskalierende Situation wurde die AKP-Regierung gemacht. Wir selbst waren gerade auf dem Weg zum Platz vor dem Hauptbahnhof, um uns schnell noch in die Demoblöcke einreihen zu können, als 200 Meter vor uns die erste Bombe ohrenbetäubend explodierte. Die zweite folgte ein paar Sekunden später, keine 50 Meter von der ersten entfernt. Wären wir einmal ausnahmsweise pünktlich gewesen, würden wir das Interview hier wohl nicht führen.

Was weiß man über den Anschlag und die möglichen Täter?

Laut HDP-Krisenzentrum gibt es über 120 Tote und mehr als 500 Verletzte. Es sind mit Sicherheit zwei Bomben hochgegangen. Es ist zudem sicher, dass die Bomben mit Splittern präpariert wurden, um die Wirkung zu verstärken. Die Splitter, die Polizeiintervention 10 bis 15 Minuten nach den Explosionen und das sehr, sehr langsame Agieren der vom Gesundheitsministerium koordinierten Krankenwagen führten zu der hohen Opferzahl. Zu den Tätern: Es scheint klar, dass es zwei Selbstmordattentäter waren, die Identitäten sind meines Wissens noch ungeklärt. Der IS jedenfalls gratulierte zum Anschlag.

Wie reagiert die AKP-Regierung auf die Friedensbewegung und die übrige Opposition?

Der Anschlag in Ankara - immerhin die Hauptstadt der Republik - geschah während einer Demonstration, bei der alle felsenfest überzeugt waren, dass sie friedlich bleibt. Die Art und Weise, wie Präsident Erdogan das Ganze kommentierte (im Sinne, das sei nicht schlimmer als die Angriffe gegen türkische Soldaten), muss man in Verbindung sehen mit den offenen Drohungen gegenüber Oppositionellen seitens der AKP in den vergangenen Wochen und Monaten. All das soll den Menschen zu verstehen geben: Ab jetzt gibt es in der Türkei keine Sicherheit mehr für das Leben, wenn gegen die Regierung protestiert wird.

Wie sehen die Chancen der linken Opposition aus, bei den Neuwahlen eine AKP-Mehrheit zu verhindern?

Ich bin mir gar nicht sicher, ob am 1. November Neuwahlen stattfinden, zumindest unter »normalen« Bedingungen. Ich halte es ehrlich gesagt aber auch für einen riesigen politischen und moralischen Fehler, unter diesen De-facto-Bürgerkriegsbedingungen und bei einer de facto diktatorisch allein regierenden Partei, die in dieser Form schon längst abgewählt wurde und die offen mit Toten und Verletzten Wahlmathematik betreibt, noch ernsthaft wie in »normalen« Zeiten von Wahlen zu reden und diese Schlächter dadurch noch irgendwie zu legitimieren. Die AKP führt Krieg und will Tote, um sich mittels chauvinistischer Reflexe und Terror an der Macht zu halten. So agierte sie vor den Wahlen im Juni und so agiert sie nach den Wahlen im Juni. Wir, die wir diesen Anschlag mit welchem Glück auch immer überlebt haben, haben regelrecht die Pflicht und die Bürde, diese Regierung und ihre Schlächter mit allen Mitteln zu stürzen und sie den Preis für all das von ihr verursachte Leiden und Sterben zahlen zu lassen. Das sind wir den mittlerweile Hunderten von Toten und Tausenden von Leidenden schuldig. Und nur so wird es vielleicht eines Tages Frieden geben