Frankfurter Rundschau, 13.10.2015

Die Trauer der Kurden ist voller Wut

Von Frank Nordhausen

Während türkische Kampfflieger Stellungen der PKK bombardieren, tragen Kurden in Diyarbakir die Toten der jüngsten Anschläge zu Grabe. "Mörder Erdogan" skandiert die Menge. Eindrücke aus einem gespaltenen Land.

Als der lange Trauerzug den Friedhof in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir erreicht, donnern tieffliegende F-16-Kampfflieger über den blauen Himmel, unterwegs in die Provinz Hakkari und den Nordirak, um dort Stellungen der Kurdenguerilla PKK zu bombardieren. „Wir begraben unsere Toten, und sie töten unsere Söhne“, sagt der pensionierte Maler Fahiri Server, der wie die anderen Trauernden gekommen ist, um zwei Opfern des Terroranschlags von Ankara das letzte Geleit zu geben. Einige tragen Schwarz, ältere Frauen die traditionellen bunten kurdischen Kleider, die meisten der überwiegend jungen Menschen aber Jeans und T-Shirts. Als die mit Fahnen in den kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün geschmückten Särge die ausgehobenen Gruben erreichen, skandiert die Menge „Mörder Erdogan“ und „Mörderstaat“, viele machen mit ihren Händen das Victory-Zeichen der kurdischen Freiheitsbewegung.

Fahiri Server, ein schlanker Mann mit grauem Haar und weißen Bartstoppeln, hält wie die anderen Trauergäste den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und die Regierung in Ankara für mitverantwortlich für den blutigsten Terroranschlag in der türkischen Geschichte, dessen Opferzahl sich laut Angaben von Gerichtsmedizinern am Dienstag auf 102 erhöht hat. Als der Imam gesprochen hat, ruft Server gemeinsam mit den Tausenden, was sie wieder und wieder gerufen haben auf ihrem Marsch zum Friedhof: „Märtyrer sterben nie!“ und „Der Mörderstaat wird zur Rechenschaft gezogen!“. Kurdische Frauen stimmen das schrille Trillern an, mit dem sie traditionell der Toten gedenken. Von der Straße her behalten Spezialpolizisten in Schutzwesten, mit Maschinenpistolen im Arm vor gepanzerten Fahrzeugen den Friedhof genau im Auge.

Zu Grabe getragen werden in Diyarbakir an diesem Tag Abdullah Erol, 43, Parlamentskandidat der prokurdischen Linkspartei HDP und die 70-jährige Meryem Bulut. Beide stehen symbolisch für die Opfer des verheerenden Anschlags von Ankara, die von den Kurden „sehit“, „Märtyrer“, genannt werden. Der aus Diyarbakir stammende Erol, Vater zweier kleiner Kinder, verkörpert die politische Bewegung der linken Kurden und linken Türken. Ihre „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) übersprang bei den Parlamentswahlen am 7. Juni als erste prokurdische Partei die Zehnprozenthürde und trug damit entscheidend dazu bei, die absolute Mehrheit der seit 13 Jahren regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Erdogans zu brechen.

Die 70-jährige Kurdin Meryem Bulut aus Istanbul ist das älteste Opfer von Ankara. Sie steht für das Leid und den Blutzoll jener Kurden, die sich seit den 1980-er Jahren gegen den türkischen Staat erhoben und die Guerillabewegung PKK unterstützten. Ihr Sohn Ahmet war PKK-Mitglied und verlor vor neun Jahren sein Leben beim Kampf „in den Bergen“, wie die Kurden sagen, ihr Enkel Onur starb zu Beginn des Jahres im irakischen Sindschar-Gebirge, als er auf Seiten der syrischen Kurden gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) kämpfte.

"Wie konnten Terroristen das ungehindert tun?"

Meryem Bulut, die in Istanbul auch als „Meryem Ana“, „Mutter Maria“, bekannt war, gehörte zur Bewegung der kurdischen „Friedensmütter“, die sich für ein Ende des Konfliktes zwischen der Armee und der PKK einsetzten. Jetzt ist sie selbst zum Opfer geworden. Zum Opfer einer Tat, die viele Menschen auf der Beerdigung und in der Stadt Diyarbakir als vorsätzlichen Anschlag auf die Kurden deuten. „Die Regierung sagt, dass hinter der Tat der IS steht“, sagt die 16-järige Schülerin Alda Arcu. „Aber wieso konnten die Terroristen das ungehindert tun? Trotz all der neuen Sicherheitsgesetze und Sicherheitsmaßnahmen? Mitten in Ankara?“

Ähnliche Fragen stellen die Trauernden, die in diesen Tagen ihre Angehörigen, Freunde und Bekannten zu Grabe tragen, in der ganzen Türkei. Dass die polizeilichen Ermittler die Hintergründe der Bluttat jemals umfassend klären werden, daran mögen viele nicht glauben. Erfahrungen der Vergangenheit haben sie gelehrt, den türkischen Geheimdiensten und sogar der Regierung Schreckenstaten jeder Art zuzutrauen – auch gegen absolut Unschuldige. Sie glauben, dass Kräfte innerhalb des Staatsapparats über die Anschlagspläne informiert oder gar in sie verwickelt waren. Dass Erdogan einen schmutzigen Krieg gegen die kurdische und die linke Opposition führt, um die Kurdenpartei wieder unter die Zehnprozenthürde zu drückens und damit seine Macht zu sichern. „Ein Mann und seine Regierung wollen das Zepter der Macht nicht aus der Hand geben“, sagt die Schülerin Alda Arcu, ein zartes Mädchen mit Piercing an der rechten Augenbraue. „Aber wir alle hier haben genug von den Toten und Verletzten. Wir wollen nur Frieden.“

Tatsächlich sind auch die zwei vorangegangenen verheerenden Anschläge des Sommers auf Kurden und Linke in Diyarbakir und Suruc bisher nicht befriedigend aufgeklärt worden. Am vergangenen Samstag, beim bisher schlimmsten Anschlag der an Gewalt und Terror reichen türkischen Geschichte hatten vermutlich zwei Attentäter auf einer Friedensdemonstration am Bahnhofsplatz in Ankara in die Luft gesprengt. In den Krankenhäusern der Hauptstadt bangen die Angehörigen weiter um jene unter den mehr als 250 Verletzten, die noch immer mit dem Tod ringen.

Aus Trauer wird Wut

Die Regierung hat drei Tage Staatstrauer ausgerufen. Doch überall im Land mischen sich in die Trauer und die Verzweiflung Wut und Zorn über das beispiellose Versagen der Sicherheitskräfte. In vielen Städten formierten sich am Montag und Dienstag Trauer- und Protestzüge. Gewerkschaften und Verbände riefen landesweit zu Streiks auf. Vor allem im kurdischen Südosten auch am Dienstag viele Läden aus Protest gegen das Attentat geschlossen. Und alle stellen sich die Fragen: Wer hat diese barbarische Tat zu verantworten? Und was hat sie möglicherweise mit den anstehenden Neuwahlen am 1. November zu tun?

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat bereits am Montag erklärt, dass alle Spuren auf eine Urheberschaft der IS-Dschihadisten hindeuteten. Er versicherte außerdem, dass die Parlamentswahl trotz der zunehmenden Spannungen im Land wie geplant stattfinden solle. Doch die Menschen auf der Beerdigung in Diyarbakir und Oppositionelle im ganzen Land geben die Schuld oder jedenfalls eine Mitschuld an dem Massaker der Regierung und dem Staatspräsidenten Erdogan.

In der Mitte des Trauerzugs von Diyarbakir läuft am Montag Gülten Kisanak von der HDP, die frühere Co-Chefin der Kurdenpartei und seit der Kommunalwahl im vergangenen Jahr Co-Bürgermeisterin der kurdischen Millionenmetropole. Die eher kleine, für ihre Bissigkeit bekannte Politikerin antwortet auf die Frage, wer die Verantwortung für den Anschlag trage: „Erdogan. Der Angriff erfolgte im Herzen von Ankara, wo täglich Tausende von Menschen kommen und gehen und wo sich alle offiziellen Institutionen, das Zentrum der Geheimdienste und das Büro des Ministerpräsidenten befinden. Es gibt überall Überwachungskameras. An diesem Ort ist es schlicht undenkbar, dass der Staat keine Informationen über einen bevorstehenden Anschlag gewonnen hat.“ Die HDP-Politikerin fügt hinzu, dass die Regierung die Wahlen mit Chaos und Terror gewinnen wolle. „Sie wollen die Menschen einschüchtern. Aber das wird nicht funktionieren.“

Die Reaktionen spiegeln die tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft, die von der Regierung und von Erdogan aus wahltaktischen Gründen seit Monaten vorangetrieben wird: eine Spaltung zwischen islamisch-konservativ und säkular, zwischen Rechten und Linken, Türken und Kurden. Die extreme Polarisierung lässt die dringend nötige gesellschaftliche Versöhnung immer unwahrscheinlicher erscheinen. Nirgends wird diese Kluft derzeit deutlicher als in den kurdischen Provinzen Südostanatoliens, in denen die HDP bei der Juniwahl bis zu 90 Prozent der Stimmen holte.

Ausgangssperre in Diyarbakir

In der Innenstadt von Diyarbakir herrscht seit Sonnabendmorgen eine abgestufte Ausgangssperre. Die Eingänge zur Altstadt sind von schwer bewaffneten Einheiten der Aufstandspolizei mit massiven Sperrgittern abgeriegelt, hinter denen Panzerwagen und Wasserwerfer stehen. Nur Anwohner mit gültigen Ausweispapieren werden herein- und hinausgelassen. Vor den Absperrungen stehen Dutzende Menschen, die darüber klagen, dass sie ihre Angehörigen und Freunde nicht besuchen oder ihren Geschäften nicht nachgehen können. Nur in einigen ausgewählten Straßenzügen wird das Ausgehverbot am Dienstagmorgen gelockert. Doch die Straßen der Altstadt, in denen es sonst von Menschen wimmelt, in der Straßenhändler ihre Sesamkringel, Nüsse und Trockenfrüchte oder Sandalen anpreisen und Hunderte Geschäfte um Kunden werben, sind gespenstisch leer, die Läden verrammelt. Über den Häusern kreist ein Polizeihubschrauber. Abends ist das charakteristische Geräusch von Maschinengewehrfeuer und manchmal eine Explosion zu hören.

Die Polizei versucht im Altstadtviertel Sur, Kämpfer der bewaffneten PKK-Jugendorganisation YDG-H auszuräuchern, die im unübersichtlichen Gewirr der mittelalterlichen Gassen ein ideales Terrain für den Straßenkampf besitzen. Sie sperren Straßen mit Barrikaden, heben Gräben aus, damit die gepanzerten Fahrzeuge der Sicherheitskräfte nicht hindurchkommen, liefern sich aus ihren Verstecken heraus Gefechte mit der Polizei. Beide Seiten gehen mit äußerster Brutalität vor. Am Sonntag starb nach offiziellen Angaben ein Polizist, als er mit dem Einsatzwagen über eine Sprengfalle fuhr. Laut Beobachtungen zweier Reporter der kurdischen Nachrichtenagentur Diha, die in der Altstadt ausharren, wurden am Wochenende sieben Zivilisten von der Spezialpolizei und ihren Scharfschützen getötet, darunter ein zwölfjähriges Mädchen und ein älterer Herr, der seine Tauben auf einem Dach füttern wollte.

„Das ist alles nicht so ungewöhnlich, denn die Türkei ist nun einmal ein Land des Nahen Ostens“, sagt mit fatalistischem Augenaufschlag AKP-Spitzenkandidat von Diyarbakir, Galip Ensarioglu, bei einem Gespräch in seinem eleganten, privaten Bürohaus in einem Villenviertel von Diyarbakir. Diese Aussage des hochgewachsenen Mannes, der dichtes graumeliertes Haar hat und aussieht wie ein Dressman, muss man erst einmal sacken lassen: Ein Vertreter der Regierungspartei, die so stolz auf ihre moderne „Neue Türkei“ ist, setzt sein Land gleich mit gescheiterten Staaten wie Syrien oder Irak.

Auch Ensarioglu, Vertreter eines der bedeutendsten kurdischen Clans der Region, ist davon überzeugt, dass seine Partei bei der Juniwahl verlorene Stimmen in den Kurdengebieten jetzt wieder zurückgewinnen werde. Die Kämpfe in der Altstadt und der Anschlag von Ankara deutet er strikt parteipolitisch. Der Doppelanschlag von Ankara habe nicht das Geringste mit der Regierung zu tun, niemand könne sie der Kollaboration mit dem IS bezichtigen, denn die Türkei sei Teil der US-geführten Koalition gegen die Dschihadisten und bombardiere sie jeden Tag. Der schlagfertige Politiker beherrscht das Schwarze-Peter-Spiel perfekt. Die Verantwortung trage der IS, indirekt aber auch die PKK. „Sie ist für das Chaos im Land verantwortlich, sie hat die Kämpfe begonnen“, sagt er. „Was soll die Polizei denn tun, wenn normal gekleidete Leute sie in unseren Städten mit Kalaschnikows angreifen?“

Das Gespräch wird immer wieder vom ohrenbetäubenden Heulen der F-16-Bomber übertönt, zu vom nahen Flughafen zu ihren Kampfeinsätzen starten. Seit der Friedensprozess und ein zweijähriger Waffenstillstand zwischen der PKK und dem Staat Ende Juli kollabierten, laden sie ihre Bomben wieder über den Positionen der Guerilla ab. Die Rebellen haben im Gegenzug den Guerillakampf von den Bergen in die Städte getragen und damit eine gefährliche neue Front eröffnet. Doch am Sonntag hat die PKK-Führung eine einseitige Waffenruhe bis zu den Wahlen am 1. November ausgerufen, um den Urnengang nicht zu gefährden.

Wäre das nicht eine Gelegenheit gewesen, die Friedensgespräche neu zu beleben und auch staatlicherseits die Waffen ruhen zu lassen? „Es ist ausgeschlossen, nur weil eine Terrororganisation plötzlich beschließt, dass sie wegen der Wahlen nicht mehr schießen will“, sagt der AKP-Politiker. Doch auch er weiß nach den Erfahrungen von dreißig Jahren Kampf mit mehr als 40.000 Toten, dass die Rebellen militärisch nicht zu besiegen sind. Deshalb ist er sich auch sicher, dass bald wieder verhandelt werden wird, und er beruft sich auf ein Wort von Erdogan, wonach der Friedensprozess derzeit zwar „eingefroren“, aber nicht tot sei. „Es geht weiter, wenn wir die Wahl gewonnen haben“, sagt Galip Ensarioglu mit einem strahlend siegesgewissen Lächeln.

In der Altstadt sitzt im riesigen leeren Speisesaal des Viersternehotels Liluz, das wegen der Ausgangssperre zurzeit fast keine Gäste hat, der Geschäftsmann Melik Bedirhanoglu, dessen Familienclan das renommierte Haus gehört. „So kann es nicht weitergehen“, sagt der 46-Jährige, der in Diyarbakir auch die einzige private Kunstgalerie betreibt und Vorsitzender des größten kurdischen Unternehmerverbandes ist. „Die Kämpfe und das Chaos zerstören die Wirtschaft und den Tourismus in der Stadt und der gesamten Region.“ Er spricht von massiven Umsatzeinbußen, von einem Stopp der Direktinvestitionen, seit die Kurdenregion wieder zum Schlachtfeld geworden sei. Auch Bedirhanoglu hat Angst vor einem harten Bürgerkrieg, der Kurdistan verwüsten würde wie Syrien oder den Irak. Die AKP, aber auch die PKK spielten ein gefährliches Spiel mit der Zukunft des Landes, sagt er. „Das muss sofort aufhören. Wir wünschen uns hier nur eines: endlich Frieden.“
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