zeit.de, 13.10.2015

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Syrien ist kein Nahost-Blockbuster

Die Kurden, Verbündete des Westens gegen den IS, sollen für Vertreibungen verantwortlich sein. Beweisen lässt sich das nicht. Wer hasst hier wen?

Von Muriel Reichl

Jetzt also auch noch die Kurden. Lange wurden sie als die einzigen verlässlichen Bündnispartner in Syrien gefeiert, daher wiegen die jüngsten Vorwürfe von Amnesty International umso schwerer. Die Menschenrechtsorganisation sieht die Regierungspartei der kurdischen Autonomieregion in Nordsyrien verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an Arabern, Turkmenen und selbst Kurden. Ganze Dörfer sollen systematisch zerstört worden sein, Tausende vertrieben und bedroht. Die regierende Partei der kurdischen Autonomie, genannt Rojava, rechtfertigt die Maßnahmen als militärisch notwendig.

Derartige Vorwürfe sind nicht neu. Bereits im Juni klagten arabischstämmige syrische Rebellen über "ethnische Säuberungen", die von der kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD) koordiniert und von deren Militäreinheiten (YPG/YPJ) ausgeführt würden. Kurz vorher hatten die kurdischen Milizen mithilfe der amerikanischen Luftwaffe die Region Tal Abyad (kurdisch: Girê Sibî) eingenommen, ein weiterer Schlag gegen die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS).

Anders als in Kobani besteht die Bevölkerung in Girê Sibî jedoch nicht hauptsächlich aus Kurden, sondern auch aus arabischen und turkmenischen Gruppen. In ihrem jüngsten Bericht gibt Amnesty International an, die Lage in Städten und Dörfern in Rakka und Hassaka untersucht zu haben. Zur Orientierung: Girê Sibî gehört zum Gouvernement Rakka und liegt direkt an der türkischen Grenze. Hassaka, der größte und reichste Kanton der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien, befindet sich weiter östlich nahe der Grenze zum Irak.

Araber unter Generalverdacht

In den Quellen lässt sich keine Antwort darauf finden, ob die Kurden in Syrien willkürliche Menschenrechtsverletzungen an Arabern und Turkmenen begangen haben oder die Maßnahmen "militärisch notwendig" waren. Klar ist aber: In Syrien herrscht Krieg. Und die verschiedenen Kriegsparteien verfolgen allesamt eigene Interessen. Sie lassen sich auch nicht uneingeschränkt beeinflussen von mächtigen Mitspielern von außen, wie den USA, Russland oder Europa. Die Kurden in Rojava kämpfen in erster Linie für die Kurden in Rojava und somit gegen die Terroristen des IS. Zwar bemüht sich die regierende PYD, offiziell ein gemäßigtes, pluralistisches und demokratisches Parteiprofil zu wahren, faktisch agiert sie gerade – gezwungenermaßen – als Kriegspartei. Ihre Einheiten kämpfen allenfalls mit, aber niemals für die USA oder den Rest des Westens, der Waffen auf die eine und Bomben auf die andere Seite des Konflikts werfen lässt in der Hoffnung, er möge sich auf diese Weise lösen.

Sehr zum Ärger der Türkei und vieler syrischer Rebellengruppen, aber sehr zur Freude Russlands positioniert sich die kurdische Partei PYD auch nicht gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad. In einem Interview mit Al-Monitor sprach sich Salih Muslim, der Co-Vorsitzende der PYD, sogar für eine "Periode des Übergangs" aus, in der Assad im Amt bleiben solle, bis die verschiedenen Konfliktparteien im Dialog eine Lösung gefunden hätten. Die Linie der PYD ist einheitlich: Sie kämpfe an der Seite aller, die sie im Krieg gegen den IS unterstützten, so Muslim.

Unabhängig von Mutmaßungen zu inoffiziellen Präferenzen wie den engen Kontakt zur Schwesterorganisation PKK in der Türkei lässt sich diese Devise der Zweckbeziehungen in den letzten beiden Jahren verfolgen. Von daher führt der Begriff "ethnische Säuberung" im kurdischen Kontext in die Irre. Wäre die Ethnie oder die Religion der entscheidende Faktor, ließen sich derartige Verbrechen wohl leichter beweisen.

Doch die Situation in Syrien ist wesentlich kleinteiliger. Zum einen hat sich die politische Konkurrenz zwischen arabischen und kurdischen Vertretern seit den Kämpfen in Girê Sibî enorm verschärft. Viele Araber fürchten, von den Kurden ausgespielt zu werden und aus politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu werden. Die Kurden wiederum verdächtigen teilweise pauschal alle Araber, potenziell mit den IS-Milizen zu kooperieren oder zumindest zu sympathisieren. Diesen Aspekt geben kurdische Verantwortliche meist auch an, wenn sie sich zu Verhaftungen oder Evakuierungen äußern. Dass jene in einer Kriegssituation rational, gerechtfertigt und menschenwürdig ablaufen, ist unwahrscheinlich. So schrieb die prorebellische Internetseite alsouria.net beispielsweise bereits Anfang August von 5.000 Menschen, die von kurdischen Milizen gezwungen worden seien, die Stadt Sirin in der nördlichen Region Aleppos zu verlassen.

Lastwagen voller Waffen: Welche Rolle haben die Turkmenen?

Die kurdisch-arabische Konkurrenz dreht sich auch um die Position in einer etwa 100 Kilometer langen neuen Sicherheitszone, die sich von Azaz nach Jarabulus entlang der türkischen Grenze ziehen soll. Zwar haben sich Washington und Ankara auf die Errichtung dieser grob geeinigt, wer allerdings davon profitieren darf, bleibt unklar. Schließlich unterstützt Amerika säkulare Gruppen wie die Freie Syrische Armee, die Türkei setzt schon lange auf vom Westen als fundamentalistisch eingestufte Organisationen wie Ahrar al-Sham. Während die USA die Pufferzone in erster Linie als Maßnahme gegen den IS interpretiert, will die Türkei vor allem auch den syrischen Präsidenten Assad und die Kurden stoppen – schließlich misstraut Ankara schon lange dem engen Band zwischen bereits quasi-autonomen Kurden in Syrien und autonomiewilligen Kurden in der Türkei.

Interessant sind auch die Turkmenen, die im Amnesty-Bericht ebenfalls erwähnt werden: Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen Kurden und Turkmenen in Syrien angekratzt. Denn anders als im Irak setzt sich die Türkei, namentlich der türkische Geheimdienst, für die turksprachige Minderheit ein. Die Lastwagen voller Waffen, die das türkische Militär im Januar 2014 in der Region Adana gestoppt hatten, waren laut Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan als "humanitäre Hilfe" für die bedrohten Turkmenen gemeint. Das türkische Militär, welches teilweise mit dem Geheimdienst konkurriert, gab an, die Waffen seien für Al-Kaida. Die ARD-Sendung Monitor berichtete diesen Sommer konkret von geheimen Dokumenten, die belegen, dass die deutsche Bundesregierung schon länger über türkische Waffenlieferungen an die als radikal eingestuften Gruppen Dschabat al-Nusra und Ahrar al-Sham informiert war. Beide Gruppen gelten als deckungsgleich mit dem IS, was Ideologie und Vorgehensweise angeht.

Was also ist die Rolle der Turkmenen? Vom IS werden sie bedroht, genauso wie Assyrer und Christen, die jedoch nicht in den Amnesty-Berichten auftauchen. In Syrien solidarisiert sich die Türkei mit ihnen, im Irak standen sie unter dem Schutz der PKK und den Peschmerga, denen Deutschland auch Waffen liefert. Idriss Nasan, der Vize-Außenminister Kobanis, verdächtigt die Türkei, einen gemeinschaftlichen Erfolg der kurdischen und säkularen arabischen Gruppen zu verhindern, indem sie die turkmenischen Brigaden bevorzugt.

Innerkurdische Konkurrenz

Nun zur letzten Gruppe, die von den Menschenrechtsverletzungen betroffen sein soll: die Kurden selbst. Hier zeigt sich deutlich, wie mächtig neben ethnischen Freundschaften und Feindschaften die politische Zugehörigkeit ist. In Hassaka leben viele Kurden, die sich politisch eher dem Barzani-Clan im Nordirak zugeneigt fühlen und nicht der PYD. In den Flüchtlingslagern um Erbil schreiben die Barzani-nahen Kurden Gedichte über die Peschmerga, die PYD-nahen aus Kobani schimpfen auf die ungerechte Behandlung. Und die beste Freundin der PYD, die PKK, stichelt gerade gewaltig in der kurdischen Autonomie im Irak. Das vergangene Jahr hat dem Image der dortigen Peschmerga gewaltig geschadet, die PKK konnte sich zumindest bis vor Kurzem erstmals als ernstzunehmender Bündnispartner im Krieg gegen den IS präsentieren. So unterstützt sie zum Beispiel die Goran-Opposition gegen Barzani. Der steckt gerade in der Bredouille, da auch die Beziehungen zu Bagdad miserabel sind und wendet sich immer wieder nach Ankara, dem wichtigsten Handelspartner in der Region und dem altbekannten Feind der PKK.

Sind die Kurden im Angesicht dieser komplizierten Beziehungen zu ihren Nachbarn nach wie vor ein Verbündeter im Kampf gegen den IS? Wenn sie es vorher waren, sind sie es jetzt wahrscheinlich auch noch. Ob sie es vorher waren und wie sinnvoll ein Stellvertreterkrieg wie der in Syrien ist, sei eine andere Frage. Inwiefern eine bedrohte Gruppe, die in Kriegshandlungen verwickelt ist, dem hypokritischen demokratischen Leitfaden des Westens folgen wird, auch. Generell wäre die internationale Reaktion auf die Vorwürfe wahrscheinlich weniger groß, wenn der Einsatz gegen den IS als ein Krieg gegen ein diktatorisches System und brutale Warlords verstanden würde und nicht als Nahost-Blockbuster, in dem die Edlen gegen die Monster kämpfen.