junge Welt, 15.10.2015

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Zuckerbrot und Peitsche

Menschenrechtsorganisation spricht von kurdischen Kriegsverbrechen. Moskau bietet Bündnis gegen IS an

Von Nick Brauns

Die Organisation Amnesty International (AI) erhebt schwere Vorwürfe gegen die von der Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Autonomieverwaltung im nordsyrischen Kurdengebiet Rojava. Diese missachte das Völkerrecht in einer Weise, die Kriegsverbrechen gleichkomme, heißt es in einem am Dienstag von AI veröffentlichen Bericht. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sollen Dörfer niedergerissen und Tausende arabische und turkmenische aber auch einige kurdische Einwohner vertrieben haben. Es handele sich laut AI um Racheakte an Menschen, die der Sympathie oder Verbindung mit dem »Islamischen Staat« (IS) verdächtigt wurden. Die angeblichen Kriegsverbrechen sollen vor allem geschehen sein, als die YPG-Kämpfer im Juni einen bislang vom IS gehaltenen Korridor zwischen den Selbstverwaltungskantonen Kobani und Cazire freikämpften und den vom IS beherrschten Ort Tel Abyad einnahmen.

Als Belege führt AI Zeugenaussagen, Satellitenbilder und in den zerstörten Orten gedrehten Videos an. Nach eigenen Angaben besuchte das Rechercheteam im Juli und August 14 Dörfer. Was AI verschweigt: Eine solche Untersuchung im Kriegsgebiet war nur mit Billigung der Autonomieverwaltung und gestützt von der YPG möglich.

Satellitenaufnahmen des Dorfes Husseinija bei Tel Hamees im Nordosten Syriens sollen belegen, dass von 225 im Juni 2014 zu erkennenden Gebäuden ein Jahr später nur noch 14 erhalten sind. Die Region um Tel Hamees hatte strategische Bedeutung als Verbindungsroute zwischen den IS-Gebieten in Syrien und im Irak und war nach schweren Gefechten im Februar 2015 von den YPG eingenommen worden. Wie viele Häuser im Kampf zerstört wurden und wie viele anschließend aus Angst vor regelmäßig vom IS zurückgelassenen Sprengfallen, die zahlreichen kurdischen Kämpfern das Leben gekostet haben, planiert wurden, ergibt sich aus der AI-Studie nicht.

Es handele sich um »falsche Anschuldigungen«, wies der Vizeaußenminister des Selbstverwaltungskantons Kobani, Idriss Nassan, die Vorwürfe zurück. »Wir haben allen Menschen die Rückkehr in ihre Gebiete gestattet, nachdem diese befreit worden waren.« Lediglich IS-Kollaborateure seien verhaftet worden. Ähnlich äußerte sich YPG-Sprecher Redur Xelil gegenüber AI.

Es ist wohl kein Zufall, dass die von den Medien breit aufgegriffene AI-Kampagne zum jetzigen Zeitpunkt lanciert wird. Die YPG haben gemeinsam mit arabischen und assyrischen Milizen eine neue Militärkoalition der »Demokratischen Kräfte Syriens« gegen den IS gebildet. Dahinter scheint ein Disziplinierungsversuch der USA gegenüber den kurdischen Verbündeten im Rahmen einer Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik zu stecken. So warf einerseits ein US-Transportflugzeug zu Wochenbeginn 45 Tonnen Waffen und Munition für die YPG ab. Zugleich wird den kurdischen Milizen gedroht, diskreditiert zu werden, wenn sie zu eigenmächtig agieren.

Der PYD-Kovorsitzende Salih Muslim hatte im Unterschied zu den westlichen und arabischen Mitgliedern der Anti-IS-Allianz das russische Engagement in Syrien begrüßt und als Sicherheitsgarantie gegen einen drohenden türkischen Einmarsch bezeichnet.

Die russische Regierung soll der Rojava-Selbstverwaltung im Gegenzug die Einrichtung einer »ständigen Vertretung« in Moskau angeboten haben. »Russland hat erklärt, mit uns arbeiten zu wollen«, erklärte die hochrangige PYD-Vertreterin Ilham Ehmed vergangene Woche in Washington gegenüber dem Internetportal Al-Monitor.

Differenzen zwischen den USA und den YPG gibt es über das weitere Vorgehen gegen den IS. Die kurdischen Kräfte wollen den IS aus Jarablus am Westufer des Euphrat verjagen, um von dort aus einen Verbindungskorridor zum dritten Selbstverwaltungskanton Afrin freizukämpfen. Um den Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei zum Anti-IS-Kampf zu nutzen, musste Washington gegenüber Ankara versichern, eine Ausdehnung des kurdischen Autonomiegebiets westlich des Euphrat nicht zuzulassen. Statt dessen drängen die USA auf eine Offensive gegen die IS-Hauptstadt Al-Raqqa. Die YPG schrecken derzeit vor einer solch verlustreichen Operation zurück. Dahinter steht auch die Sorge, wegen der Schwäche ihrer arabischen Verbündeten nach einer Einnahme der arabisch bewohnten Stadt als kurdische Besatzungsmacht zu gelten.