Der Standard, 14.10.2015

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EU will Türkei als sicheres Drittland anerkennen

Thomas Mayer aus Brüsse

Kommission und Merkel bemühen sich stark um Kooperation bei Flüchtlingspolitik

Trotz massiver Bedenken wegen der Verletzungen von Grundrechten durch die Behörden – sei es durch Repressionen gegen Oppositionelle und Journalisten, sei es das brutale Vorgehen gegen Kurden – dürfte die EU der Türkei schon bald den Status eines "sicheren Drittstaates" zuerkennen. Das zeichnete sich im Vorfeld des EU-Sondergipfels der Staats- und Regierungschefs ab heute, Donnerstag, in Brüssel ab.

Dort stehen alle Pläne, die der Bewältigung der Flüchtlingswelle dienen sollen, auf der Tagesordnung: die Einrichtung von "Hotspots" zur Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge; die Sicherung der Außengrenzen, aber auch die Abschiebung von Migranten, die kein Asyl- oder Aufenthaltsrecht haben. Konkret wird der Europäische Rat das von der EU-Kommission vorgeschlagene Maßnahmenpaket zur Hilfe, aber auch das neue Kooperationskonzept mit der Türkei beraten. Die im September vereinbarten Hilfsmaßnahmen (1,7 Milliarden Millionen Euro zusätzlich bis Ende 2016) laufen zwar an, aber viele Staaten zieren sich. Formelle Entscheidungen sind kaum zu erwarten, auch nicht bei dem politisch heiklen Thema "Sicheres Drittland Türkei" (was der Anerkennung eines rechtstaatlich unbedenklichen Landes gleichkommt, in das man abgewiesene Asylwerber abschieben kann).
Auch sechs Balkanstaaten im Gespräch

Man könne sich vorstellen, "dass es Sinn macht, im Gesamtzusammenhang des Flüchtlingspakets die Türkei in die Liste der sicheren Drittstaaten aufzunehmen", hieß es Mittwoch in deutschen Regierungskreisen in Berlin. Auf die Liste sollen auch die sechs benachbarten Balkanstaaten kommen, allen voran Serbien, wo eine Hauptfluchtroute durchläuft. Die Beantwortung dieser sensiblen Frage ist deshalb so wichtig, weil die EU-Staaten ohne enge Abstimmung mit der Türkei das Flüchtlingsproblem kaum in den Griff bekommen, wie man in der Kommission bestätigt.

In der Türkei leben mehr als zwei Millionen Syrer. Ratspräsident Donald Tusk warnte die Regierungschefs sogar davor, dass 2016 Millionen Flüchtlinge in die EU könnten, wenn es nicht gelinge, die Lage zu beruhigen. Die türkische Regierung hat ihre Gegenforderungen noch nicht formuliert. Es scheint aber klar, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan noch vor den Wahlen im November wie alle anderen EU-Beitrittswerberländer behandelt werden will, und neben Finanzhilfen auch die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen wünscht.

Um darüber zu verhandeln, reisten Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn nach Istanbul und Ankara. Am Sonntag wird die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit Erdogan sprechen. Der Gipfel, bei dem außenpolitisch die Lage in Syrien und in Libyen im Fokus steht, soll ihr eine wichtige Weichenstellung bringen. (Thomas Mayer, 14.10.2015)