welt.de, 14.10.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article147593387/Tuerkei-gibt-Namen-der-Attentaeter-bekannt.html

Anschlag in Ankara

Türkei gibt Namen der Attentäter bekannt

Die Behörden haben die beiden Selbstmordattentäter von Ankara identifiziert – beide sollen IS-Mitglieder sein. Die Opposition vermutet jedoch, dass auch Kräfte innerhalb des Staates verwickelt sind. Von Deniz Yücel , Adiyaman

Die türkischen Behörden haben nach eigenen Angaben die beiden Selbstmordattentäter von Ankara identifiziert: Es handelt sich um Ömer Deniz Dündar und Yunus Emre Alagöz, der ältere Bruder von Seyh Abdurrahman Alagöz, der im Juli in Suruc mit einem Selbstmordattentat 32 linke Aktivisten ermordete (Link: http://www.welt.de/144244298) . Beide Attentäter standen auf einer Fahndungsliste der türkischen Regierung mit mutmaßlichen Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Unterdessen wurden der Polizeipräsident von Ankara und zwei weitere lokale Verantwortliche entlassen. Doch am tiefen Misstrauen gegenüber Staat und Regierung, das im oppositionellen Teil der Bevölkerung herrscht, dürfte dies nichts ändern. Und das hat Gründe: Am Montag ließen die Behörden zwar Trauerzüge und Streiks (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article147460493/Erste-Hinweise-auf-Taeter-nach-verheerendem-Anschlag.html%C2%A0) gewähren. Doch die am Dienstag in Istanbul geplante Demonstration wurde vom Gouverneur verboten, die Polizei ging mit Gewalt gegen Demonstranten vor.

Noch befremdlicher ist folgende Nachricht vom Tatort: Noch am Abend des Anschlags wurden die forensischen Untersuchungen für beendet erklärt und der Bahnhofsvorplatz von Ankara gereinigt. Am Sonntagvormittag sperrte die Polizei das Gebiet ab und ging mit Tränengas und Knüppeln gegen 300 Menschen vor, die dort Blumen niederlegen wollten (Link: http://www.welt.de/147479140) .

Begründung: Die Untersuchungen würden fortdauern. Kurz darauf wurde die Gegend für den Verkehr freigegeben. Am Montagabend fand ein Team des Fernsehsenders Kanal D dort Leichenfetzen; kurz darauf machten Bahnarbeiter an anderer Stelle den gleichen grausigen Fund. Offensichtlich wurde der Tatort voreilig gesäubert.

Opposition wirft Regierung Mittäterschaft vor

Große Teile der Opposition glauben nicht nur, das der Staat nicht alles getan hat, um diesen Anschlag zu verhindern, sondern sind auch davon überzeugt, dass Kräfte innerhalb des Staates davon wussten (Link: http://www.welt.de/147446736) oder gar an Planung und Ausführung beteiligt waren. So wiederholte Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der prokurdisch-linken Partei HDP im Fernsehsender CNN International seine Vorwürfe an die Adresse der Regierung: "Es gibt Indizien, die auf den IS deuten. Aber es gibt Leute im Staat, die den IS unterstützen."

Ministerpräsident Davutoglu weist diese Vorwürfe zurück. Er sprach am Montag von der Liste von 21 potenziellen Selbstmordattentätern – auf der auch die Attentäter von Ankara, Ömer Deniz Dündar und Yunus Emre Alagöz, standen. Diese habe der Geheimdienst vor geraumer Zeit an die lokalen Polizeibehörden geschickt. Dündar, Alagöz und 16 andere sollen – wie schon die Attentäter von Diyarbakir und Suruc – aus der südostanatolischen Stadt Adiyman stammen, die drei übrigen seien angeheiratete Ehepartner.

Diese Leute würden beschattet, hatte Davutoglu am Montag gesagt. Aber man könne nichts unternehmen, solange sie nicht zur Tat schritten. Jetzt weiß man: Ömer Deniz Dündar und Yunus Emre Alagöz, die beiden Attentäter von Ankara, hatten ihre Tat da schon verübt.

Jetzt stellen sich Fragen: Schließlich hatte Davutoglus Regierung im Frühjahr über alle Einwände hinweg ein Sicherheitsgesetz beschlossen, das präventive Festnahmen von Verdächtigen ermöglicht. Dass gerade er Bedenken gegen diese Maßnahme hat, erscheint seltsam. Bei mutmaßlichen Anhängern der PKK oder der linksradikalen DHKP-C scheuen sich die Behörden jedenfalls nicht vor solchen präventiven Festnahmen. Und in einem Land, in dem immer wieder Menschen wegen "Beleidigung des Staatspräsidenten" verhaftet werden, wirken Davutoglus rechtsstaatliche Bedenken wenig glaubwürdig.

Immerhin wurden nach dem Anschlag von Ankara rund 50 Personen wegen des Verdachts auf Unterstützung des IS festgenommen. Doch dieselbe Nachricht gab es schon nach dem Attentat von Suruc. Die meisten von ihnen wurden bald wieder freigelassen, ob und welche Schritte danach eingeleitet wurden, ist unklar. Eine Anfrage der "Welt", ob und wie viele der damals festgenommenen Personen sich noch in Untersuchungshaft befinden, ob Anklagen erhoben wurden und ob es personelle Überschneidungen zwischen den jetzigen und den damaligen Festnahmen gibt, ließ das Justizministerium unbeantwortet. Die einzige Antwort in 48 Stunden: eine Empfangsbestätigung. Dafür wurde am Nachmittag eine Nachrichtensperre zu den Ermittlungen in Ankara verhängt. Bis zum Abschluss der Untersuchungen seien alle Formen von "Nachrichten, Interviews, Kritiken und ähnliche Veröffentlichungen" verboten, hieß es in der Verfügung.

Das seltsame Schweigen des IS

Nun sind mangelnde Kompetenz oder fehlender Ermittlungseifer schwerwiegende Vorwürfe. Doch der ungeheuerliche Verdacht auf eine Komplizenschaft staatlicher Kräfte ist etwas anderes. Doch weshalb wollen auch viele besonnene türkische Intellektuelle diese Überlegung nicht ausschließen?

Da ist die Verhöhnung der Opfer durch Teile der AKP-Anhängerschaft und der Nationalisten, wie sie beim Fußballländerspiel am Dienstagabend deutlich wurde (Link: http://www.welt.de/147573168) . Da ist die langjährige Unterstützung und stillschweigende Duldung, die der türkische Staat dem IS gewährte. Da ist der Umstand, dass der Mann, der im Juni die Bomben bei der HDP-Kundgebung (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article142043664/Opposition-macht-Erdogan-fuer-Anschlag-verantwortlich.html%C2%A0) in Diyarbakir gelegt haben soll, zwei Tage vor dem Anschlag festgenommen, aber wieder laufen gelassen wurde, obwohl nach ihm wegen Verdachts auf IS-Mitgliedschaft gefahndet wurde.

Da ist das seltsame Schweigen des IS. Die Organisation, die ihre Karriere nicht zuletzt darauf aufgebaut hat, sich mit ihren Gräueltaten zu brüsten, hat sich zu keinem der Anschläge in der Türkei bekannt. Der Massenmord von Ankara wurde allerdings auf einem dem IS nahestehenden Twitter-Account gefeiert: "Allah sei Dank gab es eine Explosion auf einer Kundgebung der ungläubigen Kommunisten. Wir gratulieren denen, die das gemacht haben."

Ein Bekennerschreiben ist das nicht, es deutet aber auf einen weiteren Aspekt: Obwohl die Türkei nach langem Zögern der Anti-IS-Koalition beigetreten ist und der IS ein Drohvideo gegen die Türkei und Erdogan veröffentlicht hat, haben sich die Anschläge von Diyarbakir, Suruc und Ankara nicht wahllos gegen die Bevölkerung oder gegen staatliche Einrichtungen gerichtet, sondern gegen politische Gegner der AKP, gegen Linke und Kurden, Aleviten und Atheisten.

Zwar kämpft die PKK in Syrien an der Seite ihres dortiges Ablegers gegen den IS. Andererseits richtete sich nur der Anschlag von Diyarbakir direkt gegen die kurdische Bewegung. In Suruc traf es eine mit der HDP verbündete gesamttürkische linke Gruppe und die Friedenskundgebung in Ankara war von einem breiten Bündnis geplant, inklusive Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Dass der IS ein so feines Gespür für innenpolitische Konstellationen in der Türkei haben sollte, wäre bemerkenswert.

Lebt der "Tiefe Staat" noch?

Und da ist schließlich die türkische Geschichte: Der Verdacht, dass im Land paramilitärische Strukturen existieren (Link: http://www.welt.de/2382453) , steht seit den 70er-Jahren im Raum – spätestens seit dem Verkehrsunfall von Susurluk im Jahr 1996. Dabei starben unter anderem ein hochrangiger Polizeioffizier, ein Abgeordneter der Mitte-Rechts-Partei DYP, ein international gesuchter Auftragsmörder und Drogenhändler und ein Militanter der Grauen Wölfe. Die Untersuchung des Unfalls beförderte Verstrickungen zwischen dem Sicherheitsapparat, der Politik und Auftragsmördern aus den Reihen der rechtsextremen "Grauen Wölfe" ans Tageslicht. Seitdem weiß man, dass der "Tiefe Staat" kein Hirngespinst von Linken und Thrillerautoren ist.

Ende der 70er-Jahre bediente dieser "Tiefe Staat" sich der "Grauen Wölfe", also der Jugendorganisation der rechten MHP. In den frühen 90er-Jahren waren es militante Islamisten, die in den westlichen Städten Anschläge auf säkulare Intellektuelle verübten und in den kurdischen Gebieten als Todesschwadronen gegen das Umfeld der PKK eingesetzt wurden. Aber in Suruc und in Ankara waren Selbstmordattentäter am Werk – ein klarer Hinweis auf die Beteiligung dschihadistischer Gruppen.

Das Argument, wonach Erdogan auf eine "Strategie der Spannung" setzen könnte, also eine Atmosphäre von Chaos und Gewalt schüren wolle, um bei der vorgezogenen Neuwahl am 1. November davon zu profitieren (Link: http://www.welt.de/144746825) , ist in dem Fall des Ankara-Attentats nicht nachvollziehbar. Womöglich ist das ein wesentlicher Grund für die erneute Eskalation des Krieges mit der PKK. Doch dass die AKP von einem solch mörderischen Anschlag in der Hauptstadt Nutzen ziehen könnte, ist kaum vorstellbar.

Doch Kräfte innerhalb des Staates heißt nicht zwingend, dass diese Kräfte der Staatsführung unterstehen. Traditionell waren "der Staat" und die Regierung in der Türkei stets verschiedene Dinge. Zwar hat die AKP in einer Weise die Kontrolle über den Staatsapparat inklusive der Armee und der Justiz übernommen wie keine andere Regierung seit Ende des Einparteiensystems 1950. Aber die totale Kontrolle hat sie nicht. Und es könnte gut sein, dass Reste des alten "Tiefen Staates" fortexistieren oder sich sogar mit Teilen des AKP-Apparats verschmolzen haben.

Zu bedenken ist auch, dass wenn Kräfte innerhalb des Staates zwar von den Anschlagsplänen wussten, sie sich nicht zwingend über die Ausmaße im Klaren waren. Vielleicht ist da etwas außer Kontrolle geraten.