Der
Standard, 15.10.2015 http://derstandard.at/2000023904930/Irakisch-Kurdistan-steht-am-Scheideweg Irakisch-Kurdistan steht am Scheideweg Analyse Gudrun Harrer Die Region befindet sich in der größten politischen Krise seit 20 Jahren – auch wegen des Ringens um einen Nachfolger für Präsident Barzani Zehn Jahre ist es her, dass die beiden (damals) großen irakischen Kurdenparteien, die KDP (Kurdische Demokratische Partei) von Massud Barzani und die PUK (Patriotische Union Kurdistans) von Jalal Talabani, ihr schwieriges Projekt des Zusammenführens der getrennten Verwaltungen von Erbil und Sulaymaniya begannen. Denn vor zwanzig Jahren hatten KDP und PUK Irakisch-Kurdistan, das seit dem Aufstand nach dem Golfkrieg 1991 de facto autonom war, in bürgerkriegsartige Unruhen geführt, die nur durch eine Teilung zu beruhigen waren. Erst der Sturz Saddam Husseins durch die US-Invasion 2003 brachte das geteilte Kurdistan wieder zusammen. Und heute, 2015, befindet sich
Irakisch-Kurdistan in der größten politischen Krise seit den 1990er-Jahren:
Wieder werden Menschen durch parteipolitische Auseinandersetzungen getötet.
Die PUK wurde allerdings in ihrer Rolle als Herausforderin der KDP von
der Partei Gorran – was "Wandel" heißt – abgelöst. Die Gorran, bei der letzten Wahl zweitstärkste Partei, saß in der Regierung und stellte den Parlamentspräsidenten, bis sie alle zu Wochenbeginn von KDP-Premier Nechirvan Barzani handstreichartig entlassen wurden. Und zwar teils mit recht drastischen Methoden: So wurde der Parlamentspräsident Yussuf Mohammed gemeinsam mit anderen Gorran-Abgeordneten einfach auf der Straße aufgehalten und aus Erbil ausgesperrt. Die KDP wirft Gorran vor, Gewalt gegen KDP-Einrichtungen angezettelt zu haben. Viele Kurden und Kurdinnen – aber auch Beobachter von außen wie der Uno-Chef im Irak, Jan Kubis, der am Mittwoch an die Kurdenführer appellierte – befürchten ein weiteres Abgleiten in die Gewalt wie in den 1990ern. Der "andere Irak" Der kurdische Teil des Irak, dessen Autonomie als Region in der neuen irakischen Verfassung von 2005 verankert wurde, galt zu Recht in den vergangenen zehn Jahren als "der andere Irak". Relativ stabile wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, der systematische Aufbau von Institutionen, Politiker, die aus ihren diversen Exilorten, meist im Westen, demokratisches Know-how mitgebracht hatten und Kurdistan eine neue, moderne Verfassung geben wollten. Dorthin flohen und fliehen die Iraker vor Krieg und Unsicherheit – etwa die irakischen Christen – im arabischen Teil. Und doch wurden soeben wieder drei Leichen von Österreich nach Erbil zurückgebracht: 21 der 71 Toten aus dem auf der Autobahn bei Parndorf abgestellten Lastwagen waren irakische Kurden. Im Sommer verließen täglich bis zu 300 Kurden ihre Region. "Rudaw Online" zitiert am Mittwoch einen Verwaltungsbeamten in Sulaymaniya, der sagt, dass seit Juni allein mehr als tausend Lehrer das Land verlassen haben. Das Geld geht aus Die Lehrer sind deshalb ein Thema, weil sie wie andere Beamte in Sulaymaniya auf die Straße gingen, um wegen ausstehender Gehälter zu protestieren. Die kurdische Regionalregierung hat massive finanzielle Probleme. Zwar hat sie sich einstweilen mit Bagdad – das lange die Bezahlung aus dem irakischen Budget wegen des Erdölstreits mit Erbil ausgesetzt hatte – zusammengerauft, aber der Krieg gegen den "Islamischen Staat", die Versorgung der Flüchtlinge (soeben gibt es einen Cholera-Ausbruch in Lagern bei Dohuk), der niedrige Ölpreis, all das überstrapaziert das kurdische Budget und die kurdische Infrastruktur. Hunderte Projekte mussten gestoppt werden, es geht nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts. Allerdings sind viele Kurden und Kurdinnen auch der Meinung, dass viel Geld in den Taschen korrupter Politiker verschwindet. Die alten feudalen Verhältnisse, die tribale Tradition, vor allem für die eigene Klientel zu sorgen, sind schwer aufzubrechen. Der aktuellen Krise liegt das Ringen um das Präsidentenamt zugrunde. Massud Barzani (Premier Nechirvan ist sein Neffe) ist seit 2005 der mit einer großen Machtfülle ausgestattete Präsident der kurdischen Regionalregierung. 2013 wurde sein Mandat schon einmal über die vorgesehenen acht Jahre hinaus um zwei Jahre verlängert. Es lief im August 2015 aus: Seitdem liegen sich die KDP und ihre Anhänger, die meinen, Barzani sollte angesichts der schwierigen Verhältnisse weiter im Amt bleiben, und die Opposition zur KDP, die einen demokratischen Wechsel fordert, in den Haaren. Die PUK hat heute eher die Rolle der Vermittlerin inne: Der Vorschlag war, dass Barzani bleiben könne, aber mit einer neudefinierten Präsidentschaft mit weit weniger Befugnissen. Barzanis Machtfülle Die Opposition richtet sich nicht nur gegen die Person von Massud Barzani, sondern gegen die Machtfülle der Barzanis, die viele wichtige Ämter besetzen: wie schon erwähnt, wieder einmal das Premiersamt (es gab aber auch schon einen PUK-Premier). Auch der Geheimdienst ist fest in Barzani-Hand. In Bagdad ist ein Barzani-Verwandter, Hoshyar Zebari, Finanzminister. Es ist sehr viel verlangt von
einem von multiplen Konflikten – nun auch wieder jener zwischen PKK und
Ankara – umgebenen kleinen Land wie Irakisch-Kurdistan, dass es in einem
besonders unsicheren Moment quasi eigene eingefahrene Strukturen zertrümmert,
um den demokratischen Kurs zu halten. Aber im Moment findet das Gegenteil
statt: Die kurdische Politik regrediert. Kurdistan steht an einem Scheideweg,
hoffentlich nimmt es die richtige Abzweigung. Und der Westen wäre aufgerufen,
wenigstens mit Geld zu helfen. (Gudrun Harrer, 15.10.2015)
|