welt.de, 15.10.2015

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Was von Syrien übrig bleiben wird – vier Szenarien

Seit vier Jahren versinkt das Land in Chaos und Anarchie, jeder kämpft gegen jeden. Die Zukunft von Syrien ist ungewiss, ob mit oder ohne Assad, klar ist nur: Es gibt keinen Weg zurück. Von Dietrich Alexander

5:2 gegen Afghanistan, Gruppenplatz eins in der Qualifikation zur Fußball-Weltmeister- und Asienmeisterschaft. Endlich haben die Syrer mal wieder einen Grund zur Freude – auch wenn ihre Elf aus nachvollziehbaren Gründen ihr Heimspiel nicht in Damaskus oder Aleppo, sondern in Maskat, der Hauptstadt des Oman, austragen musste.

Die Kicker huldigen ihrem Präsidenten Baschar al-Assad, dem sie auch ihren Sieg widmeten. Bisher musste sich das regimetreue Team nur dem Topfavoriten der Asiengruppe E und vierfachen Asienmeister Japan (Fifa-Weltranglistenplatz 55) geschlagen geben. Zwölf Punkte aus fünf Spielen – die Syrer könnten schaffen, was ihnen in Friedenszeiten nie gelungen ist: an einer Fußball-Weltmeisterschaft teilzunehmen. Das ist für Assad sowohl ein gewisser Prestigegewinn als auch eine Möglichkeit, Normalität in Zeiten von Chaos und Anarchie vorzutäuschen.

Die nächste Fußball-Weltmeisterschaft wird 2018 in Russland ausgespielt. Doch für welch ein Syrien werden die Kicker um Kapitän Abdulrasak al-Hussein dann antreten, sollte sich der aktuelle 123. der Fifa-Weltrangliste tatsächlich qualifizieren? Wird es dann überhaupt noch "ein" Syrien geben? Und wie wird es aussehen, wer wird herrschen?

Nach mehr als 250.000 Toten und fünf Millionen syrischen Kriegsflüchtlingen außer Landes sowie mindestens ebenso vielen Binnenflüchtlingen, einem Kampf jeder gegen jeden und verschiedenen Interessen verfolgenden Regionalmächten im Hintergrund sind diese Fragen sehr schwierig zu beantworten. Vier Szenarien sind denkbar.

1. Präsident Baschar al-Assad kann sich behaupten (sehr wahrscheinlich)

Im Verbund mit dem Iran, der libanesischen Hisbollah und vor allem mit Russland gelingt es dem Regime in Damaskus (Link: http://www.welt.de/147167678) , über ein "Kernsyrien" die Kontrolle zu behalten oder zurückzugewinnen. Dazu zählt die Hauptstadt, die Küstenregion und größere Teile Süd- und Ostsyriens, wo die Ölfelder liegen. Regimewechsel ist nicht mehr das Ziel des Westens, sondern die Zerstörung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Assad hat einen Teil seines Landes dem IS überlassen, um den Rest zu sichern und sich als Macht- und Ordnungsfaktor sowie als Verhandlungspartner jeglicher Nachkriegslösung unentbehrlich zu machen.

In Assads Rumpfsyrien besetzen weiterhin Mitglieder der eigenen religiösen Minderheit der Alawiten (zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung) die Schlüsselpositionen in Politik, Sicherheitsapparat und Wirtschaft. Die Mehrheit der Sunniten und auch die wenigen im Land verbliebenen Christen akzeptieren das, um als Gegenleistung etwas zu bekommen, das im Krieg weitgehend verloren gegangen war: Sicherheit.

In den umkämpften Nordostgebieten Syriens setzt eine zunehmende "Warlordisierung" ein, wie sie aus dem Libanon bekannt ist: Es gibt dort diverse verschiedene Herrschaftszonen einzelner Milizen, von denen die größte und mächtigste trotz deutlicher Schwächung und Reduzierung noch immer der IS ist, der sich vor allem mit den Kurden in einem fortwährenden Kampf um die Hegemonie des Gebietes befindet.

2. Syrien zerfällt, die Mächte teilen sich Interessenzonen (wahrscheinlich)

Der Krieg jeder gegen jeden hat ein Schlachtfeld geschaffen, auf dem zu viele Akteure und Mächte im Hintergrund agieren. Nachbarländer, Milizen, Widerstandskämpfer, Separatisten und Dschihadisten kämpfen in ständig wechselnden Allianzen, die Fronten folgen keiner Logik. Syrien zerfällt und hört ähnlich wie Somalia auf, als Land zu existieren ("Somalisierung"). Der Iran und sein libanesischer Arm Hisbollah stützen das Assad-Regime offen mit Bodentruppen (Link: http://www.welt.de/147577218) und Logistik, Russland bekämpft außer Assads Armee alle Parteien in diesem unübersichtlichen, asymmetrischen Krieg.

Reaktionäre Kräfte in Saudi-Arabien und Katar stützen mehr oder weniger offen die Terroristen vom IS, die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/147240949) sieht in den Kurdenmilizen Syriens und des Irak ihre Hauptfeinde und verhindert mit ihrer Außenpolitik, dass sich eine wie auch immer geartete kurdische Autonomie auf syrischem Boden bilden kann.

Die Golfstaaten halten den IS am Leben, um ihn als Speerspitze gegen den Erzfeind Iran ins Feld zu führen. Denn durch die Unterstützung durch iranische Revolutionsgarden in Assads Überlebenskampf sichert sich die schiitische Führungsnation großen Einfluss im Rest Syriens und schafft damit erstmals ein zusammenhängendes Gebiet unter ihrem Einfluss, das vom Jemen über Bahrain, Kuwait, den Irak, Syrien und den Libanon reicht ("schiitischer Halbmond") (Link: http://www.welt.de/139109426) .

Die sunnitische Gegenmacht Saudi-Arabien ist praktisch umzingelt, und die schiitische Regionalmacht steht mehr oder weniger direkt vor Israels Grenzen, das noch zögert, in den Konflikt einzugreifen. Russland reichen die Kontrolle über Syriens Mittelmeerhäfen (Link: http://www.welt.de/147171014) und einige Luftwaffenbasen als strategisch wichtige Stützpunkte im Nahen Osten und der Mittelmeerregion.

Assad ist ein König ohne Land von Teherans und Moskaus Gnaden. Sein Herrschaftsgebiet erstreckt sich kaum über die Stadtgrenzen von Damaskus hinaus. Ein ähnliches Schicksal wie das des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani in Kabul.

3. Neuaufteilung der Staatsgebiete Syriens und des Irak (wahrscheinlich)

Die Auflösung Syriens als Nationalstaat ist unausweichlich, weil nach diesem mörderischen Krieg ein weiteres Zusammenleben der verfeindeten Gruppen unter einer Zentralregierung nicht möglich ist. Damit endet die kurze Geschichte eines Staates, dessen Grenzen durch die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich definiert wurden. Das sogenannte Sykes-Picot-Abkommens ist Makulatur.

Mit der beginnenden Zerschlagung des Osmanischen Reichs hatten der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Kollege François Georges Picot 1916 den Nahen Osten in Interessensgebiete aufgeteilt. Relativ willkürlich hatten sie Grenzen am grünen Tisch gezogen, ungeachtet der überlappenden Siedlungsgebiete großer und mächtiger Stämme und Clans, ungeachtet ethnischer, tribaler, religiöser oder konfessioneller Linien. Neue Nationalstaaten aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches waren entstanden: der Libanon, Jordanien, der Irak und eben Syrien.

Syriens Zerfall setzt einen Dominoeffekt in Gang: Jordanien, der Irak und der Libanon wanken. In das zwangsläufig entstehende Machtvakuum stoßen radikale Islamisten, die Ableger in allen Staaten der Region haben und gut organisiert sind. Darüber hinaus etablieren die verschiedenen Kurdenfraktionen einen eigenen souveränen Staat grenzübergreifend im jetzigen Nordsyrien und Nordirak, dem sich Teile Südostanatoliens gegen den Willen der türkischen Regierung anschließen wollen. Es vollzieht sich so etwas wie eine "Balkanisierung" des Nahen Ostens: Neue staatliche Entitäten oder föderale Gebilde entstehen entlang ethnischer, religiöser und Stammesgrenzen ("Balkanisierung"). Es gibt keine Zentralgewalt mehr, weder in Damaskus noch in Bagdad.

4. Das IS-Kalifat etabliert sich im Norden (unwahrscheinlich)

Es gelingt dem IS gegen alle Widerstände, in Teilen Nordsyriens und des Nordirak sein "dschihadistisches Staatsbildungsprojekt" eines Kalifats zu etablieren. Die Vision, alle Muslime in einem salafistisch geprägten Großreich nach den Lebensregeln des Propheten Mohammed zu vereinen, übt nach wie vor große Anziehungskraft auf frustrierte Muslime in der strauchelnden arabisch-islamischen Welt und der Diaspora aus. Die Türkei verstärkt ihre Grenzen, lässt den IS aber gewähren, weil ein Kurdenstaat die Alternative und für Ankara sehr viel problematischer ist. Zwischen dem IS und der Türkei herrscht ein Stillhalteabkommen. Der IS beendet seinen aggressiv-missionarischen Dschihad und richtet sich in den von ihm beherrschten Gebieten logistisch ein. Er schafft eine funktionierende Infrastruktur und wird als Kalifatsstaat nur von Katar und Saudi-Arabien anerkannt.

Im Süden und am Mittelmeer hat sich nach Assads Abgang ins russische Exil eine syrische Übergangsregierung etabliert, die aus allen gesellschaftlich relevanten Gruppen besteht. Die meisten syrischen Flüchtlinge kehren in das von der Übergangsregierung verwaltete Gebiet zurück, in dem eine internationale Schutztruppe stationiert ist, um einen erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges zu verhindern.