Süddeutsche
Zeitung, 15.10.2015
Nach dem Anschlag in Ankara Die Türken trauern, ihre Regierung treibt Spielchen Die türkische Regierung gibt sich wenig Mühe, das Attentat von Ankara umfassend aufzuklären. Statt dessen streut sie Gerüchte. Kein Wunder, dass manche ihr alles zutrauen. Kommentar von Luisa Seeling Hass und Angst prägen in diesen Tagen die Türkei, die politischen Lager stehen sich kurz vor der Wahl am 1. November unversöhnlich gegenüber. Das Auftreten der Regierung nach dem Anschlag in Ankara, bei dem fast 100 Menschen starben, ist nicht dazu angetan, die Polarisierung zu überwinden. Auch diesmal waren die Opfer überwiegend Kurden, HDP-Anhänger, linke Aktivisten, wie schon bei den Attentaten in Diyarbakır im Juni und einen Monat später in Suruç. In beiden Fällen haben die Behörden die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) als wahrscheinlichen Täter ausgemacht. Auch die beiden Selbstmordattentäter von Ankara sind inzwischen offenbar identifiziert worden. Das Misstrauen von Teilen der Bevölkerung gegen den Staat aber sitzt tief, und es wird durch das Verhalten der Regierung noch vertieft. Seit Jahren ist es das gleiche Muster Deren Beileidsbekundungen für die Opfer halten sich in Grenzen; eine Mitverantwortung für das, was geschehen ist, will sie nicht erkennen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat zwar mehrere Polizeichefs suspendiert, nachdem die Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte immer lauter geworden waren. Doch auf hoher politischer Ebene übernimmt niemand Verantwortung. Seit Jahren ist es das gleiche Muster: Ob nach dem Grubenunglück in Soma, bei dem 301 Bergleute ums Leben kamen, dem Bombardement von Zivilisten in Uludere durch die türkische Luftwaffe, bei dem 32 Zivilisten starben, oder dem Selbstmordattentat von Suruç - stets weisen Regierungsvertreter jede Verantwortung von sich, fast nie gibt es politische Konsequenzen, meist auch keine umfassende Aufklärung. Parallel dazu behindert der Staat die Arbeit der Medien. Wer kritisch berichtet, wird unter Druck gesetzt - oder es gibt gleich eine Nachrichtensperre. Der Staat schützt nicht die Bürger, er schützt sich vor den Bürgern. Einen Nachrichtenstopp gibt es übrigens auch diesmal, es hält sich nur kaum einer daran. Kein Wunder also, dass Teile der Bevölkerung diesem Staat alles zutrauen, von Behördenversagen bis Mittäterschaft. Und es gibt wirklich Merkwürdigkeiten: Wenn einer der Selbstmordattentäter von Ankara der Bruder des Täters von Suruç ist, wie die Behörden offenbar inzwischen wissen, und wenn spätestens seit Suruç bekannt war, dass beide IS-Anhänger waren, warum gelang es der Polizei dann nicht, den Anschlag in Ankara zu verhindern? Schließlich hatte die AKP erst im Frühjahr verschärfte Sicherheitsgesetze beschlossen, die präventive Festnahmen von Terrorverdächtigen leichter machen. Nun sagte Regierungschef Ahmet Davutoğlu, man habe zwar eine Liste mit potenziellen Selbstmordattentätern gehabt, man könne aber erst eingreifen, wenn diese zur Tat schritten. Zur Erinnerung: Die Türkei ist ein Land, in dem sogar Schüler vor Gericht gestellt werden, weil sie auf Twitter über den Präsidenten spotten. Die türkische Regierung wirft vor der Wahl mit Nebelkerzen Misstrauisch macht auch, dass sich der IS, der sonst jede Schandtat dokumentiert, zu keinem der Anschläge in der Türkei bekannt hat. Am Mittwoch brachte Davutoğlu dann noch die PKK ins Spiel als mögliche Mittäterin. Eigentlich absurd - IS und PKK sind Erzfeinde, in Syrien bekämpfen sich der PKK-Ableger PYD und der IS. In der Türkei sollen sie Komplizen sein? All das klingt nebulös, aber das soll es wohl auch, das ist die Taktik der Regierung so kurz vor der Wahl: Nebelkerzen werfen, Verantwortung wegschieben. Erdoğan hofft, so noch ein paar Stimmen für die AKP gewinnen zu können. Die Neuwahlen waren ja überhaupt erst nötig geworden, weil ihm nicht gefiel, dass seine Partei im Juni die absolute Mehrheit verlor. Bisher geht diese Taktik allerdings nicht auf. Umfragen sagen seit Wochen ein ähnliches Ergebnis voraus: keine Regierungsmehrheit für die AKP. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-taktische-spielchen-mit-dem-tod-1.2693645
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